Andreas Wiedermanns "Carmen" im MMA
Draußen, vor dem ehemaligen Heizkraftwerk, tanzen die jungen Männer mit Migrationshintergrund schon vor der Premiere zu Klängen aus dem Smartphone. In Andreas Wiedermanns „Carmen“ sind sie später das uniformierte Wachpersonal der Zigarettenfabrik, die in dieser Aufführung Billig-Textilien für die Erste Welt herstellt. Und ehe der erste Chor von Georges Bizet erklingt, singt einer von ihnen ein melancholisches Lied aus der alten Heimat.
In der Aufführung im Mixed Munich Arts wirken der Flüchtlingschor „Zukunft“ und der Flüchtlingskinderchor „Viel Harmonie“ mit. Derlei ehrenamtliches Engagement ist ein wichtiger Beitrag zur Integration. Künstlerisch bleiben solche Auftritte schwierig: Regisseur Andreas Wiedermann ersetzt das für den Pariser Bürger von 1875 exotische Spanien von Bizets Oper allzu umstandslos durch Migranten. Der Münchner Bürger von 2017 bestaunt nun, wie sie die Damen des Chors schubsen und schmusen.
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Was wiederum alle Klischees über junge männliche Migranten aus dem Mittelmeerraum bestätigt. Und auch wenn es so im Stück steht, handelt es sich mehr oder weniger um Kleinkriminelle, Akteure der Schattenwirtschaft und Drogenhändler. Und da schlägt die gute Absicht aller Beteiligten leicht ins Gegenteil um.
Viel stärker wirkt das Beziehungsdrama, das Wiedermann als Rückblende erzählt. Die Aufführung beginnt mit dem letzten Akt und bricht kurz vor dem Mord ab. Dass die Habanera und andere Requisiten des Femme-fatale-Mythos nachgereicht werden, trägt zur Versachlichung des Beziehungsdramas bei.
Mit kalter Glut
Vom Wechselbad aus Leidenschaft und Eifersucht berichtet diese Inszenierung grausam und ohne opernhafte Schnörkel. Den Darstellern könnte man von der ersten Reihe aus bisweilen ein Bein stellen, so nah ist der Zuschauer dran. Wiedermanns Ensemble hält das mühelos aus, und die Laien des Chors spielen so engagiert, dass man bisweilen vergisst, im Theater zu sitzen.
Cornelia Lanz, die Gründerin des Vereins „Zuflucht Kultur“ singt die Titelpartie klar, mit kalter Glut und ohne Mezzo-Gurren. Das passt zur prosaischen Atmosphäre und dem Verzicht auf folkloristische Reize. Nicht minder exzellent ihr Don José: Anton Klotzner verkörpert mit dem Widerspruch zwischen heldischer Stimme und täppischer Körperlichkeit schlüssig die widersprüchliche Gefühls-Naiviät der Figur. Während der Haft hat er sich den Schriftzug „Carmen“ auf die Brust tätowieren lassen. Den zeigt er ihr bei der Blumen-Arie. Selten wurde die Mischung aus ehrlicher Selbstentäußerung und Dummheit bei dieser Figur deutlicher als in diesem peinlichen Moment.
Sogar einen guten Escamillo kann Wiedermann aufbieten: Der kernig singende Torsten Petsch fährt mit der Vespa auf die Bühne. Er ist Angeber mit Goldkette, Chef der Fabrik und Drogenhändler. Wenn der verkörperte Machismo nicht ausreicht, hilft er mit einer Linie Koks nach. Julia Bachmann gibt die Micaela eher kratzbürstig im Trenchcoat. Aber die Figur bleibt hier trotz der kitschfrei gesungenen Arie und des Duetts eher eine Nebenrolle wie Frasquita (Anne Elizabeth Sorbara) und Mercedes (Judith Beifuß).
Ernst Bartmann dirigiert mit trockenem Schwung. Das Orchester ist wie bei allen Produktionen von „Opera incognita“ mit 13 Musikern solistisch besetzt. Das Hornsolo in Micaelas Arie wird sauberer gespielt wie in manchem Groß-Theater.
Am Ende Firlefanz
Dass die Rückblende von einer Pause unterbrochen wird, ist ein Kunstfehler. Die Ehrlichkeit der Einlagen stiehlt Bizets Kunstmusik gelegentlich die Schau. Den genial-lapidaren Schluss zieht Wiedermann durch allerlei Firlefanz in die Länge. Es wäre besser gewesen, die Geschichte stärker auf das Beziehungsdrama zu konzenterien und die Chorszenen zu kürzen.
Aber andererseits ist es bewunderswert, welche Beweglichkeit der Regisseur aus den Mitwirkenden herausgekitzelt hat: Die jungen Männer und Frauen spielen sich einen Wolf. Und es nötig großen Respekt ab, wie es Wiedermann und Bartmann schaffen, jedes Jahr um diese Zeit eine veritable private Großproduktion mit Chor im Stadttheaterformat zu stemmen.
Mixed Munich Arts, Katharina-von-Bora-Straße 8a. Wieder am 6., 8., 9., 10., 13., 15. und 16. September, 19.30 Uhr. Karten bei München-Ticket unter Telefon 54 81 81 81 und den bekannten Vorverkaufsstellen
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