A bsoffene Gschicht: "Am Wiesnrand" von Stefanie Sargnagel

Die Wiesn ist ein Moloch. Ein eigentümliches Biotop aus bajuwarischem Brauchtum und ekelerregendem Exzess, das süffig gärt zwischen Bierzelten, Fahrgeschäften und dem berüchtigten Kotzhügel und Flohzirkus. Ein Ort, an dem sich die Masse enthemmt und die gutbürgerliche Maske herunterreißt.
Ein Ort, wie gemacht also für die, vom abgründigen Grind angezogene Wiener Autorin Stefanie Sargnagel. Drei Tage begab sie sich für ihr erstes Theaterstück hinein in die saufkomatöse Menschenbelustigung namens Oktoberfest. Die Regisseurin Christina Tscharyiski, gleichfalls Wienerin, brachte "Am Wiesnrand" nun auf die Bühne des Münchner Volkstheaters.
Auf der Wohlstandswampe
Und auf was für eine irre Bühne: eine fette Plauze! Ein nacktes Ungetüm von einem Bierbauch liegt da auf dem Rücken, ganz hilflos, so ohne Kopf, ohne Arme, ohne Beine. Hoch hinein bis in den Bühnenhimmel ragt dieser wabbelige, mit spärlich-krisseligen schwarzen Haarbüscheln bestückte Torso. Nur das gemalte Bergidyll dahinter ist noch höher. Eine Wohlstandswampe von majestätischer Grobschlächtigkeit hat die Bühnenbildnerin Sarah Sassen da erschaffen.
Auf diesem Sinnbild gutbürgerlicher Völlerei hat sich ein Flohzirkus eingenistet. Der Flohzirkus, das sind Jan Meeno Jürgens, Jonathan Müller, Henriette Nagel, Pola Jane O’Mara und Nina Steils. Ihre nackten Beine stecken in Wollsocken und Stiefeln, die Körper in gräulich-bräunliche Fetzen gehüllt, die hin- und herbaumeln, wenn sie in bester Flohmanier umherhüpfen auf dem Fettbauch, der für die fünf vielmehr ein Fettberg ist, den sie hinauf und wieder hinabkraxeln, sich schubbern, sich fallenlassen und umherrollen, wieder aufstehen. Manchmal hocken sie einfach nur da und machen es sich gemütlich, so wie das gute Parasiten eben so tun.
Im Erzählsturzbach
Die Verschnaufpausen seien ihnen mehr als gegönnt, denn Stefanie Sargnagels Text allein wäre schon Herausforderung genug. Es ist der tosende Sprachsturzbach eines Erzähler-Ichs, das niemals auch nur einen Moment lang aufhört zu beobachten und um keine spitzzüngige Pointe verlegen ist. Und die treffen einen direkt in die politisch-korrekte Magengrube, wenn vom Münchner Kindl die Rede ist, dem Mönch im Münchner Stadtwappen, repräsentiert von "attraktiven Frauen unter 30", bei dem beide Elternteile, als auch die jeweiligen Großeltern ausnahmslos in München geboren sein müssen: "die deutsche Reinrassigkeit muss über drei Generationen nachweisbar sein."
Es ist ein Wort-Strudel aus Bier und Körperflüssigkeiten, der einen tief hinabzieht bis in die rassistisch-sexistischen Abgründe. Die Theresienwiese wird so zum "größten Fleischmarkt der Welt", "jede Bier- eine Samenbank". Überraschend sind diese Erkenntnisse vielleicht nicht, aber noch nie hat sie jemand mit so ausufernder Sprachliebe aufgeschrieben.
Da wächst der Gebirgsadlerflaum den Trachtlern aus Neubiberg aus dem Kopf, einem Besoffenen fällt der Pappteller mit der Currysoße auf den Boden, wo er dann munter weiter seine Bratwurst hineintunkt. Noch soghafter wird dieser Wort-Strudel immer dann, wenn sich das ohnehin schon absonderliche Volksfest-Fantasma noch mehr ins Surreale verdreht, wenn ein Ochse die Trachtenhüte aus Hasenhaar filzt oder die Gamsbärte der Gebirgsgurgler, die "wie Pinsel den bayerischen Himmel malen". Und dennoch: eine poetische Assoziationskette in Gonzo-Twitter-Manier über einen dreitägigen Wiesn-Besuch macht noch keinen Theatertext.
Sprechwütig baden
So ist es vor allem Regisseurin Christina Tscharyiski zu verdanken, dass dieser teilweise ins Selbstumkreisende abdriftende literarische Selbstversuch nicht zerfasert – und eine leichte Aufgabe ist es erst recht nicht, ihn mit szenischem Leben zu füllen. Doch es gelingt bravourös, auch weil Tscharyiski eine ist, die über sich als Regisseurin hinaus- und bei allen ihren Arbeiten im "Wir" denkt, im Team, bei dem auch die Musik niemals fehlen darf. So ist es nicht zuletzt die Wiener Band "Euroteuro", die mit ihrem Art-Pop-Kirmes die Wiesn als "Urmutter" besingen, mit Cover-Versionen von Olaf Hennings Balz-Hit-Kracher "Cowboy und Indianer" fürs trashige Zelt-Feeling sorgen und mit regelmäßigen "Ein Prosit der Gemütlichkeit"-Einwürfen dem Abend Struktur verleihen. So kann sich das Ensemble getrost und voller Spiellust in den sargnagelschen Gedankenstrom werfen, darin sprechwütig baden und planschen.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler teilen sich die erbarmungslos voranpreschenden Sätze auf, reichen sie schnell und präzise von einem zum anderen, spinnen da nahtlos weiter, wo der andere aufhört, oder verleihen dem Gesagtem im Chor noch einmal mehr Nachdruck. Das fordert. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Fünf nach anderthalb Stunden auf dem Fettbauch-Kotzhügel liegen, verschwitzt, zerzaust, erschöpft.
So wie es sich eben gehört nach einem gescheiten Besuch auf der Wiesn.
Wieder am Freitag, 31. Januar sowie 5., 6., 16. Februar jeweils um 19.30 Uhr und im März, Karten unter Telefon 523 46 55