Nicht nur van Goghs Meister: Hiroshige, japanischer Kultmaler des 19. Jahrhunderts
Der 30 Meter hohe Yoro-Wasserfall in der japanischen Präfektur Gifu wirkt heute nicht unbedingt spektakulär, doch er ist Schauplatz einer uralten Sage. Sein Wasser hat darin verjüngende Wirkung. Darum ist er Teil von Utagawa Hiroshiges (1797-1858) Farbholzschnitt-Serie "Berühmte Orte" Japans. Da zerschneidet der Schwall des Wassers als dominierende Senkrechte das Bild, aufgelockert nur durch die mit Ahorn und Latschen bewachsenen Vorsprünge der steilen Felswand. Durch diese ungewohnte Perspektive verliert das Auge die Orientierung - und das stilisierte Bild bekommt enorm suggestive Kraft: Es erzeugt ein Gefühl von Schwindel, wie wenn man selbst am Abgrund steht. Jetzt erscheint eine edle Ausgabe seiner "Famous Places in the sixty-odd provinces, herausgegeben von Anne Sefrioui: als mit Seide bezogenes Leporello mit 70 Abbildungen (und Kurztexten auf Englisch), das nach japanischer Leserichtung von links nach rechts zu blättern ist.
Hiroshige, ursprünglich Ando Tokutaro, wählte seinen Künstlernamen, ergänzt durch das "Utagawa" der gleichnamigen Schule, von seinem Lehrer übernahm er nach dessen Tod die Werkstatt. Vom Vater hatte er zudem das Amt als Feuerwehrmannes geerbt, das er bis 1832 ausübte. In jenem Jahr veröffentlichte er die "53 Stationen des Tokaido", der Straße von Edo (Tokio) nach Kyoto, mit der er den ersten großen Publikumserfolg feierte. Künstlerisch hat er sich von den belebten Szenen und landschaftlichen Impressionen an der Route des Handelsweges bis zum späten (nicht letzten) Werk der "Famous Places" weiterentwickelt.
Hiroshige zerlegt seine Motive in Strukturen
Hiroshiges Naturansichten sind "Ukiyo-e", "Bilder der vergänglichen Welt". Die japanische Vanitas-Variante zeigt die Natur im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten: etwa die Kirschblüte am Oi-Fluss in Arashiyama oder den Mond über dem Biwa-See.
Auch die drei als schönste Landschaften Japans geltenden Naturformationen sind hier dabei: Die Kieferninseln in der Bucht von Matshushima, die kiefernbewachsene Nehrung von Amanohashidate und der Torii vor der Insel Myajima, das symbolische Eingangstor zum dortigen Shinto-Schrein.
Und ob die "Gezeiten-Strudel von Naruto" oder der Flug der Kraniche über Saijo: Hiroshige zerlegt seine Motive in Strukturen sowie ein fast ornamentales Gefüge von Flächen, betont meist auch ein dekoratives Element. Eine verfeinerte Drucktechnik sorgt dabei für Farbnuancen, die Tiefenwirkung andeuten.
Der in Edo geborene und dort ansässige Künstler hat einige, aber nicht alle Orte seiner Druck-Serien besucht; für die "Famous Places" benutzte er auch ältere Ansichten als Vorlage, die er variierte, beschnitt, in Teilen vergrößerte. Und das Hochformat brachte weitere kompositorische Neuerungen mit sich. Hiroshige steigert die Bilddynamik, indem er auf Diagonale und Senkrechte setzt.
Faszinierend ist auch die Szene im "Tal der Einsiedler": Zwei Männer am Fluss kämpfen gegen Wind und strömenden Regen - dessen Struktur aus gebogenen Linien die Bildfläche wie ein Muster überzieht. Ein dritter Mann im Hintergrund steht gebeugt auf einer Insel. Das Unwetter am Yoshii-Fluss soll vor allem zeigen, wie sehr diese Gegend vom rauen Klima geprägt ist. Mit solchen Beobachtungen wurde Hiroshige zum Meister der Landschaftsdarstellung in der späten Edo-Zeit. Nicht zuletzt Vincent van Gogh nahm dessen Werke als direkte Vorlage für Gemälde.
"Hiroshige: Famous Places in the sixty-odd provinces" (Prestel, 110 Seiten, 35 Euro)
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