Graphic Novel über Alfred Hitchcock: Ein geniales Muttersöhnchen
Da ist dieser unfassbare Bauch: raumfüllend, dominant, keinen Widerspruch duldend. Dazu kommt eine auffallende Unterlippe mitten in einem Quadratschädel, der direkt in den Hals übergeht. Auch eine gewisse Unbeweglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Im Filmgeschäft macht man damit schwerlich Karriere, zumindest nicht in jungen Jahren. Doch Alfred Hitchcock kam gar nicht erst auf den Gedanken, sich vor die Kamera zu stellen. Immer schon wollte er die eigentlichen Strippen ziehen und mit knappen, präzisen Worten den Ton angeben.
Hitchcock war sechsmal für den Oscar nominiert
Das hat sich der 1899 in London geborenen Sohn eines Gemüsehändlers dann auch hart erarbeitet. Es gab zwar nie einen Oscar, obwohl er sechsmal nominiert war, allerdings unzählige Auszeichnungen im Kino- und Showbiz. Und immerhin vier Monate vor seinem Tod am 29. April 1980 die Erhebung in den Adelsstand. Ohne Kniefall, der Körper wollte längst nicht mehr.
Bereits im Sommer zuvor musste Hitchcock sein Büro auf dem Gelände der Universal Studios in Hollywood aufgeben. Das war ein bitteres Ende nach einem so sagenhaften Aufstieg, den jetzt der erste Band einer zweiteiligen Graphic Novel im pointierten Schnelldurchgang nachzeichnet - und gleich im Sinne des Regiestars einsteigt: mit der Duschszene aus "Psycho".
"Psycho", "Die Vögel": Hitchcock galt als "Master of Suspense"
Jeder kennt das Messer, die kreischend kämpfende Frau unterm Wasserstrahl, selbst wenn er den Film nie gesehen hat. Der Thrill funktioniert bis heute, egal, wo auf der Welt diese kurze, genial geschnittene Sequenz gezeigt wird. Janet Leigh ist wahrscheinlich immer noch das bekannteste Mordopfer des Kinos, vor allem aber hat sich Hitchcock nicht nur als "Master of Suspense", also der Spannung, sondern gleich noch als Großmeister der Angst einen Namen gemacht.
Unwillkürlich fragt man sich, was ihn angetrieben hat und ob womöglich im tiefsten Inneren etwas Sadistisches saß, das nach außen drängte. Das Gegenteil war der Fall: Für den Autor Noël Simsolo ist es die eigene Angst, die dem Perfektionisten ein Leben lang in den Knochen saß und die er mit dem Grauen bannen musste. Simsolo, selbst Filmemacher, lässt ihn beim Dinner mit den Hollywood-Schönlingen Grace Kelly und Cary Grant aus der Vergangenheit plaudern. Im Juni 1954, nach den Dreharbeiten zu "Über den Dächern von Nizza", trifft man sich im Carlton, und bei Champagner und knackenden Langusten wird Hitch schnell redselig.
Hitchcock bleibt Voyeur und dabei immer auch lernbegierig
War der kleine Fred allein, hat er sich ganz entsetzlich geängstigt. Und essen half, je mehr, desto besser - auf diese Beruhigungsdroge ist immer Verlass. Ob ihn der Vater auf einer Polizeiwache mit Zellenarrest bestraft oder im Jesuiteninternat auch nur die Knute als Vorgeschmack auf die Hölle droht. Der schüchterne Bub wird zum Musterknaben, stets darauf bedacht, der dominanten Mutter zu gefallen. Die lässt sich den tadellosen Tagesablauf ihres Pummelchens minuziös schildern. Für den Rest, nennen wir es die Sehnsucht, ist das Theater zuständig, die Literatur und bald das Kino. Außerdem delektiert sich der notorische Einzelgänger an Zeitungsberichten über grausige Verbrechen und bei Besuchen im Crime-Museum von Scotland Yard.

Hitchcock bleibt der Voyeur und dabei immer auch lernbegierig, egal ob er im wilden Berlin der Zwanzigerjahre den Expressionismus oder "verschiedene sexuelle Neigungen" studiert. Und erst recht, als er Friedrich Murnau bei den Dreharbeiten zu "Der letzte Mann" über die Schulter blicken darf. Der visionäre deutsche Film ist angesagt in der internationalen Szene, und Murnau vermittelt dem "dicken Engländer", dass es keineswegs genügt, clevere Kulissen zu entwerfen. Vielmehr müssten die Ideen eines Films in visueller Hinsicht zum Ausdruck kommen: durch Perspektiven, Beleuchtung, Konfrontationen. Und nicht durch umständliche Zwischentitel, wie es in der Stummfilmzeit üblich ist.
Graphic Novel übersetzt Anekdoten in Bilder
Beim Produktionsboss Michael Balcon fällt der als Zeichner engagierte Hitchcock schnell auf durch kühne Konzepte, ungewöhnliche Besetzungen - ein sanfter Adonis soll einen Serienkiller spielen - und die "visuelle Sprache", die er sich von Murnau abgeschaut hat. Außerdem arbeitet der arrogant auftretende Hitch bis zum Umfallen, morgens ist er der Erste, nachts der Letzte, der die Studios verlässt. Anfangs will er nur seiner Angebeteten, der Cutterin Alma Reville, imponieren und Karriere machen, um sie heiraten zu dürfen (die Mutter verbietet ihm die Ehe mit einer Frau, die über ihm steht). Dann geht es Schlag auf Schlag und Hitch hat mit Alma die ideale Mitstreiterin gefunden.
Der 76-jährige Noël Simsolo erzählt das ungemein kundig, plaudert ganz nonchalant aus dem Fundus des Filmhistorikers und lässt schöne Anekdoten einfließen, die Zeichner Dominique Hé (71) mit feinem Witz in Bilder übersetzt. Ob es nun um Marlene Dietrichs Schlafzimmerblick oder Hitchcocks ausufernde Gelage geht - und natürlich die Scherze, mit denen er seine Umgebung ordentlich piesacken und auf die Probe stellen konnte. Simsolo fordert seine Leser mit Andeutungen und überhaupt viel Filmgeschichte. Aus der Flut an Comic-Biografien mehr oder weniger berühmter Leute sticht Simsolos "Hitchcock" jedenfalls deutlich heraus. Dazu muss er weder das Muttersöhnchen, noch den Fiesling am Set überstrapazieren. Und Weihrauch zu schwenken, liegt ihm sowieso fern. Vielmehr erscheint Hitchcock als Mann mit grandiosen Talenten - und nicht gerade kleinen menschlichen Fehlern.
Noël Simsolo, Dominique Hé: "Alfred Hitchcock. Der Mann aus London” (Splitter, 160 Seiten, 24 Euro), Band 2 über die Zeit in Amerika soll Ende des Jahres erscheinen.
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