75. Filmfestspiele in Cannes: Die Spielregeln im Blitzlicht
Cannes - Damen fragt man nicht nach dem Alter - sagt man. Aber bei der großen französischen Diva - dem Festival du Film - scheint das anders zu sein: Denn die behauptet offiziell: Ich bin 75! Was interessant ist, wenn man nachrechnet. 1939 sollte das Festival an der Cote d'Azur zum ersten Mal stattfinden - als Konkurrenz der freien Welt zum Festival in Venedig. Denn das wiederum war zwar seit seiner Gründung 1932 auf der Terrasse des Nobelhotels Excelsior am Lido das älteste internationale Filmfestival der Welt, aber zunehmend faschistisch unterwandert worden, so dass - salopp gesagt - nur noch Italiener, Leni Riefenstahl und Luis Trenker gewannen.
Cannes: Neustart 1946
Nicht nur Marlene Dietrich war 1939 also schon aus Amerika auf dem Ozeandampfer Richtung Côte d'Azur unterwegs, als der Zweite Weltkrieg von Deutschland entfesselt und das erste Internationale Festival du Film in Cannes abgesagt wurde, bevor es überhaupt begonnen hatte. Also gab es 1946 einen Neustart im Fischerstädtchen bei Nizza, das vor allem durch reiche Engländer und Russen schon ein Nobelort für Reisende und Müßiggänger geworden war.
So wäre das Festival eigentlich schon 77 Jahre alt. Aber zweimal (1948 und 1950) ist es aus finanziellen Schwierigkeiten ausgefallen. Genaugenommen müsste man auch das Jahr 2020 nicht mitzählen, wo es coronabedingt auch nicht in den Kinosälen stattfand, sondern man nur eine offizielle Filmauswahl bekannt gab - quasi als Pseudoadelung eines Films, was lächerlich war und auch gar nicht wahrgenommen wurde. Und was macht man mit dem Jahr 1968? Kurz nach dem Start war Louis Malle aus der Jury ausgetreten, um sich mit den Studentenprotesten und dem Revolutionsversuch in Paris zu solidarisieren.
Und am Folgetag, am 19. Mai, waren Truffaut, Claude Lelouche und Roman Polanski mit anderen in den großen Saal gestürmt, und nicht nur Jean-Luc Godard war am Bühnenvorhang hochgeklettert, um dessen Öffnung zur Vorführung zu verhindern. Das Festival wurde wirklich abgebrochen.
75. Mal Cannes: Coupez! macht den Start
Egal - das Festival in Cannes eröffnet also am Dienstagabend offiziell seine 75. Ausgabe mit dem französischen Film "Coupez!", der international "Final Cut" heißen wird. Bis vor wenigen Wochen hieß das Remake eines japanischen "Zombie"-Films noch "Z". Aber der Buchstabe ist mittlerweile medial verbrannt, weil er zum russischen Unterstützersymbol für den Angriffskrieg auf die Ukraine geworden ist Ob aber überhaupt eine Zombiegeschichte ein guter Eröffnungsfilm in diesen Zeiten ist? Außerdem war er bereits in den USA als Eröffnungsfilm von Robert Redfords Sundance-Festival in Colorado im Januar angesetzt, aber wegen Corona… Regisseur Michel Hazanavicius jedenfalls hat schon vor elf Jahren von Cannes aus einen Triumphzug angetreten mit seiner Stummfilm-Hommage "The Artist", dann auch den Oscar geholt und 133 Millionen Dollar eingespielt. Hauptdarstellerin war seine Lebensgefährtin Bérénice Bejo, die in "Final Cut" wieder mitspielt.
Tom Cruise mit "Top Gun" in Cannes
Die Fortsetzung von "Top Gun" nach über 35 Jahren hat in Cannes jetzt zumindest Europapremiere und ist außerhalb des Wettbewerbs, bringt aber Tom Cruise (59) nach Cannes. Tom Hanks ist in einer "Elvis"-Verfilmung von Baz Luhrmann zu sehen, der vor über 20 Jahren schon einmal das ganze Festival elektrisierte mit dem Eröffnungsfilm "Moulin Rouge", wozu am alten Hafen ein ganzes Illusions-Montmartre aufgebaut war und dort eine Dauerparty stattfand. So einen PR-Aufwand betreiben die Major-Studios heute nicht mehr. Zu unsicher sind die Erwartungen an die Kinokassen in Zeiten von Streaming-Konkurrenz und sinkendem Kinoumsatz.
Kein Streaming in Cannes
Aber auch in dieser Frage ist Cannes konsequent. Man hält an der Idee fest: "Kino! Dafür werden Filme gemacht!" So verweigert man - im Gegensatz zur Konkurrenz in Venedig - Streaming-Plattformen, die längst zu den größten Filmproduzenten gehören, den Weltpremierenglanz, den Zugang. Jeder Film in der offiziellen Auswahl von Cannes muss eine größere Kinoauswertung garantieren - und die ist streng, wenn man bedenkt, wie leichtsinnig lässig die Oscar-Academy mit der Kinoauswertungsbedingung umgeht: zwei Wochen in einem Kino in L.A.! Da ist Cannes ein wahrer Löwe im Kampf fürs Kino.
Selfie-Verbot am roten Teppich
Angenehm konservativ ist auch das Selfie-Verbot am roten Teppich – um Würde zu wahren und Zeit zu sparen. Es gilt, weil selbst Stars sich oft nicht zu blöd waren, auf den blitzlichtumzuckten Stufen (die Fotografen tragen Smoking) zum Saal Lumière hinauf für das "Ich-war-auch-da"-Selbstporträt immer wieder innezuhalten.
Cannes gilt auch als besonders treues Festival, das einmal eingeladene Regisseure mit ihren neuen Werken immer wieder einlädt. So ist auch David Cronenberg wieder im Wettbewerb dabei - mittlerweile 79 Jahre. Und er hat - wenn auch nicht Heulen und Zähneklappern, so doch Türenschlagen angekündigt, weil er mit "Crimes of the Future" an seine Horrorfilmperiode anknüpfen will - mit so genanntem "Body Horror", also den Veränderungen am menschlichen Körper, was Viggo Mortensen erfahren und auch Mitspielerinnen Léa Seydoux und Kristen Stewart betreffen wird. Im Wettbewerb sind auch der in seiner Heimat drangsalierte Russe Kirill Serebrennikow, der Japaner Hirokazu Kore-Eda, die alten, sozialkritischen Belgier Jean-Pierre et Luc Dardenne.
Fremaux lehnt Frauenquote ab
Thierry Fremaux, der künstlerische Direktor in Cannes, lehnt Frauenquoten weiterhin ab. So sind Regisseurinnen wieder einmal in krasser Unterzahl. Gerade einmal sechs von 21 nominierten Wettbewerbsfilmen wurden nicht von Männern gedreht. Unter den Frauen sind Claire Denis und Valeria Bruni Tedeschi. Deutsche und österreichische Regisseurinnen oder Regisseure sucht man vergebens. So wirft Cannes für die hiesige Branche immer wieder die Frage auf, warum es fast nie deutsche Filme in den Wettbewerb schaffen.
Fast nie deutsche Filme in Cannes
Hinter vorgehaltener Hand galt lange Zeit als Ausrede, dass Gilles Jacob, der von 1977 an die Festspiele geprägt hat, einen Vorbehalt gegen Deutschland gehegt habe. Was wiederum nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn man sich als jüdischer Einwohner von Cannes als Kind jahrelang unter Lebensgefahr vor der Gestapo hat verstecken müssen. Aber 2014 endete die Präsidentschaft von Jacob beim Festival - und es tut sich dennoch nichts. Und da beginnt eben doch die Frage: Warum bringt die deutsche Filmlandschaft eigentlich so wenig Beeindruckendes hervor? "Toni Erdmann" war 2016 der letzte deutsche Beitrag im Wettbewerb seit Wim Wenders "Palermo Shooting" (2008). Jetzt ist die Österreicherin Marie Kreutzer in der Nebenreihe "Un Certain Regard" mit ihrem Film "Corsage" an, einem Historiendrama über die gealterte Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Und die deutsche Emily Atef mit ihrem Film "More Than Ever".
Goldene Palme als Feigenblatt
Das Festival du Cannes lebt davon, dass hier gleichzeitig der größte Filmmarkt der Welt stattfindet, so dass manche spöttisch meinen, der Wettbewerb um die Goldene Palme sei nur das künstlerische Feigenblatt einer wahnsinnigen Kommerzveranstaltung. Aber es gibt zwei weitere Säulen: die Stars eben und die Journalistendichte, die nirgendwo im Jahr so hoch ist wie hier, was sich auch gegenseitig bedingt. Cannes hat immerhin 75.000 Einwohner, zu denen in Festivalzeiten wieder 5.000 akkreditierte Journalisten erwartet werden und noch einmal 30.000 weitere Teilnehmer aus der Filmbranche.
2020 war das größte Filmfestival der Welt coronabedingt tot, im vergangenen Jahr ging man vorsichtshalber unter größten Hygienemaßnahmen in den Juli und feierte das Comeback des Kinos. Und in diesem Jahr soll alles fast so wie immer sein. Immerhin waren 2.200 Filme eingereicht worden - so viele wie noch nie.
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