Wie Bayern den Nationalsozialismus groß gemacht hat: "Man hätte Hitler ausweisen können"
Landsberg am Lech - Vor 100 Jahren saß Adolf Hitler in der Haftanstalt in Landsberg am Lech. In knapp 300 Metern Luftlinie entfernt stehen an diesem Donnerstagmittag Edith Raim und Wolfgang Hauck zwischen Bauzäunen und PVC-Planen. Die Historikerin und der Künstler haben sich den 100. Jahrestag der Entlassung Adolf Hitlers aus der dortigen Festungshaft am 20. Dezember 1924 schon jetzt zum Anlass genommen, eine Freiluft-Ausstellung zu konzipieren. Der AZ geben sie eine Führung.
Führung zum Aufstieg der Nazis: "Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg kam das bittere Erwachen"
Eigentlich fing es schon im Ersten Weltkrieg (1914 - 1918) an. Ohne den könne man sich den Aufstieg des Nationalsozialismus und Hitlers nicht erklären, sagt Raim vor der ersten Info-Wand. Die Historikerin und Hauck haben den Ersten Weltkrieg bewusst als frühesten Punkt in ihrer Ausstellung gewählt. Starten müssen Interessierte den Rundgang hier übrigens nicht. Dieser ist eher wie ein Irrweg aufgebaut, in dem man sich schnell in den zahlreichen Faktoren, die den Nationalsozialismus großgemacht haben, verirren kann und soll. "Das beeinflusste sich ja gegenseitig und das erlebt man in dem Labyrinth", erklärt Hauck.

"Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg kam das bittere Erwachen", erläutert Raim. Die Bevölkerung sei über Jahre belogen worden und plötzlich standen die Menschen vor den Trümmern. "Diese Frustration über die Kriegsniederlage braucht man, um die nachfolgenden Jahre zu verstehen", sagt die Historikerin. Über den genauen Startpunkt lässt sich streiten, der Hitler-Ludendorff-Putsch (1923) in München und der anschließende Gefängnisaufenthalt in Landsberg waren aber sicher zwei der entscheidenden Momente auf dem Weg ins Dritte Reich.
Künstler erzählt die Geschichte mithilfe von KI auf neue Weise
Die 10.000 Quadratmeter große Ausstellung beleuchtet eindrücklich die Entwicklungen in der Weimarer Republik. Die Geschichte wird von den beiden Kuratoren auf neuartige Weise erzählt und durch einen Geschichtsparcours aus Bauzäunen und Plakaten körperlich erlebbar gemacht. Hauck arbeitet in der Ausstellung mit Bildern, die er teilweise selbst mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) erstellt hat.

Auf den ersten Blick wirken die zahlreichen - vor allem bunten - Plakate unpassend zum Thema, ein Gefühl, das von dem Künstler bewusst geschaffen wird: "All die Bilder, die wir aus der Zeit kennen, sind schwarz-weiß", moniert er. "Wir setzen eine Bildwelt dagegen, die zeigt: Das war damals genauso bunt und vielfältig wie heute." So soll es den Besuchern leichter gemacht werden, die Parallelen von heute zu damals zu erkennen. "Da kann keiner sagen: 'So grau wie damals ist es ja heute nicht'", sagt Hauck.
Für die Erstellung der Motive hat Hauck teilweise Bild-Materialien aus der damaligen Zeit verwendet oder auch bestehende Aufnahmen überarbeitet. Zudem sind die Plakate jeweils in den Stilen von Künstlern jener Zeit – wie George Grosz, Otto Dix, Käthe Kollwitz oder Paul Klee – gehalten. Ein Motiv zeigt den Wahlkampf auf den Straßen der Weimarer Republik. Die KI hat der Künstler in diesem Fall mit echten Aufnahmen der Wahlplakate von früher gefüttert, die im Bild an der Wand hängen.
Zunahme von Rechtsradikalismus und Antisemitismus: "Dass es Parallelen zu heute gibt, ist unbestritten"
Die Radikalisierung wächst in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Die Kuratoren stehen nun zwischen Bauplakaten mit der Aufschrift "Anti-Semitismus" und "Zunahme rechtsradikaler Bewegungen ohne ausreichend Kontrolle". Die erklären, wie der Hass auf Juden und der wachsende Rechtsextremismus immer schlimmer wurden.
"Dass es Parallelen zu heute gibt, ist unbestritten", sagt Hauck. Der Künstler verweist auf die Ostwahlen der vergangenen Woche. Er habe Menschen sagen hören, man solle die AfD einfach machen lassen und dann werde sich das Problem von alleine lösen, weil die Partei ohnehin scheitern wird. An ein Scheitern der NSDAP habe man zu Zeiten von Hitlers Inhaftierung auch geglaubt. "Zehn Jahre später hatten wir dann die Machtergreifung - da kann sich nun jeder was zu denken."

Von dieser Form der Radikalisierung der 1920er Jahre sei das Deutschland der Gegenwart zwar noch weit entfernt. "Doch wenn eine rechtsextreme Partei in Ostdeutschland jetzt schon 30 Prozent erreicht, dann kann man sich vorstellen, was wäre, wenn die Leute heute wieder mit Schubkarren voller Geld zum Bäcker fahren müssten", sagt Hauck in Anspielung auf die Hyperinflation.
Hat Bayern Hitler groß gemacht?
Die Führung geht weiter zu einem Plakat zu den Vorgängerbewegungen der NSDAP und dem "Völkischen Beobachter" - Zeitung und vor allem Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung. Denen sei in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend freies Spiel gelassen worden. "Aus der Politik gab es eine deutliche Toleranz gegenüber solchen Kräften", sagt Hauck. "Geschichte entsteht durch Entscheidungen", bekräftigt auch Raim. Deshalb habe sie den Fokus in der Ausstellung vor allem auf die Irrwege - also die bewusst falschen Entscheidungen der damaligen Politik - gelegt.
"Man hätte Hitler ausweisen können oder den ,Völkischen Beobachter' verbieten", sagt sie. Verbote habe es in anderen Ländern des Reiches gegeben - in Bayern nicht. Einerseits seien linke Kräfte in Bayern systematisch unterdrückt worden und rechte Kräfte habe man andererseits gewähren lassen. Dies habe dazu geführt, dass der Freistaat Hitler in den Jahren bis 1923 großgemacht habe und ihm eine Bühne geboten habe, so die Historikerin. "Das wäre in Hamburg, Berlin oder sonst wo nicht möglich gewesen. Das war eine spezifisch bayerische Situation."
Versagen in der Erinnerungskultur? "Wir haben aus der Geschichte nicht so viel gelernt, wie wir es sollten"
Wichtig ist den Kuratoren, dass die Besucher selbst verstehen, wie das damals war. "Wir haben aus der Geschichte nicht so viel gelernt, wie wir es sollten", sagt die Historikerin. Es fließe viel Geld in Aufklärungsarbeit und Erinnerungskultur, jedoch scheine das die Menschen nicht genug zu erreichen.
Die kostenlose Ausstellung sei auch ein Versuch, die Leute auf niedrigschwellige Weise zu erreichen - auch diejenigen aus bildungsferneren Schichten. Hauck deutet auf ein Textfeld auf einem der Plakate. Es ist in einfacher Sprache gehalten. "Vereinfacht, aber nicht banal", sagt er. "Wenn jemand das hier liest, weiß er, um was es geht, und wenn er tiefer einsteigen will, dann liest er weiter." Die Parallelen erkenne man dann ohnehin.
Das Labyrinth - 100 Jahre Hitlers Festungshaft; Waitzinger Wiese in Landsberg am Lech; 6. September bis 13. Oktober, 10 bis 19 Uhr; Eintritt: kostenlos
- Themen:
- Alternative für Deutschland
- Bayern