Notaufnahme in Not: In Bayern arbeiten sie am Limit - und müssen trotzdem schließen
Drei dicke Aktenordner legten die Vertreter der Initiative "Klinik retten" Anfang April im Landratsamt Tirschenreuth auf den Tisch. Drei Ordner, darin fast 8000 Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern, die sich für einen Bürgerentscheid aussprechen: Sind Sie dafür, dass der Landkreis die ständige Erreichbarkeit eines Krankenhauses mit Basisnotfallversorgung innerhalb von 30- bzw. 40-PKW-Minuten sicherstellen muss?
Notversorgung: Bürgerinitiative kämpft für den Erhalt ihres Krankenhauses
Das klingt etwas sperrig, doch gemeint ist schlicht: Die Tirschenreuther wollen ihr Krankenhaus behalten. Denn das soll geschrumpft, abgewickelt, geschlossen werden. Am Gründonnerstag Ende März stellte die Notaufnahme den Betrieb ein. Die Initiative schätzt, dass gerade Menschen in den Grenzgebieten zu Tschechien jetzt 50 bis 60 Minuten zum nächsten Krankenhaus brauchen. Wenn der Rettungsdienst länger fährt, und auch die weiter entfernten oberfränkischen Kliniken in Marktredwitz oder Selb sich, wie schon geschehen, wegen Überlastung abmelden – wie sind die Menschen in der Region im Notfall versorgt?
Landauf landab schließen Kliniken und Abteilungen, schrumpfen Krankenhäuser zu "Versorgungszentren", wie aktuell etwa im niederbayerischen Mainburg geplant. Weil sie sich einfach nicht mehr rechnen oder weil sie die "gesetzlichen Voraussetzungen" nicht mehr erfüllen, wie vergangenes Jahr in der Notaufnahme in Burghausen argumentiert wurde (was bedeutet: Es ist zu teuer, die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen). Das Problem: Es ist staatlicher Auftrag, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Dass die ländlichen Regionen dabei nicht benachteiligt werden dürfen, steht in Bayern sogar in der Verfassung.
Und doch ist die Provinz besonders betroffen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft geht davon aus, dass im kommenden Jahrzehnt bis zu einem Fünftel aller Kliniken schließen muss – und damit auch ihre Notaufnahmen. Es liegt auf der Hand, dass das die Randgebiete eher trifft als die Ballungszentren. Und auch wenn Betreiber oft davon sprechen, die Klinikbetten umzusiedeln und zu erhalten: Meistens ist es doch nicht so. Was verloren ist, ist verloren, hat der Verein "Gemeingut in Bürgerinnenhand" ermittelt: Seit 2020 schlossen in Deutschland 66 Häuser - 50 davon ersatzlos.
Krankenhäuser in Bayern schließen und mit ihnen die Notaufnahmen
"Ein Krankenhaus mit großartigen personellen und technischen Voraussetzungen hilft nicht, wenn der Patient es nicht mehr erreicht", sagt Bernd Hontschik, Chirurg im Ruhestand und Autor von Büchern über Probleme des deutschen Gesundheitssystems. Im Gespräch mit der AZ erklärt er: Es brauche die kleinen Krankenhäuser in der Provinz. Diese seien rasch erreichbar und in der Lage, die Erstversorgung von Notfallpatienten zu leisten. Dass Kliniken geschlossen werden, darüber kann er nur den Kopf schütteln. "Wir schließen doch auch nicht die Feuerwehr, wenn es eine Woche nicht gebrannt hat."

"Vor 20 Jahren haben alle mit Ehrfurcht nach Deutschland geschaut, heute denkt man sich: Wo sind die falsch abgebogen?", sagt Christof Chwojka, Co-Geschäftsführer der Björn-Steiger-Stiftung, zur AZ. Die Stiftung befasst sich mit der Situation der Notfallhilfe in Deutschland. Jahrelang sei versucht worden, die Probleme mit Geld zu behandeln, die Personalsituation sei vernachlässigt worden. Mehr Geld, also etwa für Notaufnahmen oder Rettungswagen nütze wenig, denn: "Es gibt die Ärzte nicht mehr, es gibt die Pfleger nicht mehr, es gibt das Personal einfach nicht mehr", sagt Christof Chwojka. "Man muss das System grundsätzlich ändern."
Fragt man unter Medizinern, Politikern oder Bürgern herum, ist es – glücklicherweise – tatsächlich schwierig, überhaupt einen Fall zu finden, wo ein Patient zu Schaden kam oder gar starb, weil er nicht rechtzeitig zur Notaufnahme kam. Allerdings ist die Frage, ob man das abwarten kann oder möchte.
Kenner des deutschen Gesundheitssystems sind sich einig: Irgendetwas muss passieren. Entweder die Vergütung erhöhen, was die Krankenkassen nicht so gerne sehen. Und was nützt am Ende bessere Vergütung, wenn gar kein Arzt mehr da ist, um zu behandeln? Ärzte und Pfleger gehen in Rente, währenddessen steigt der Versorgungsbedarf einer alternden Gesellschaft. Immer weniger Personal soll in immer weniger Standorten immer mehr Patienten versorgen. Also doch umstrukturieren?
Notaufnahmen in Bayern: Bislang nur Eckpunkte zur Notfallreform bekannt
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) tendiert zu Letzterem und strebt eine Reform der Notfallmedizin an. Bislang sind nur Eckpunkte bekannt: Es sollen flächendeckend sogenannte Integrierte Notfallzentren (INZ) geschaffen werden. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung hat simuliert: Wird die Notfallversorgung in Kliniken in Deutschland auf etwas über 700 Standorte gebündelt, gefährdet das die flächendeckende Erreichbarkeit nicht. Gerade wenn die Patienten zusätzlich besser gesteuert werden, damit die Notaufnahmen wirklich für die Notfälle vorbehalten bleiben. Zudem soll das Personal im Rettungsdienst mehr Kompetenzen bekommen. Die digitale Vernetzung soll angeschoben werden.
Alles Ideen, die lange bekannte Probleme adressieren. Und für sinnvoll halten die Überlegungen auch viele. Patienten besser zu steuern, etwa an einem gemeinsamen Tresen vor der Notaufnahme, wo dann knapp und geregelt entschieden wird: Patient A geht nach rechts in die Notaufnahme. Patient B kann nach links in die Praxis für die weniger dringlichen Fälle. Unabhängig von den Reformplänen aus dem Bund gibt es solche Einrichtungen bereits, etwa im Klinikum Bogenhausen oder in Rosenheim.
Allergisch reagieren trotzdem manche, denn Krankenhausplanung ist Ländersache. Wie viele INZ in Bayern stehen und wie sie organisiert seien, da habe der Bund überhaupt nicht mitzureden, sagt etwa der bayerische Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath (CSU) im Gespräch mit der AZ, Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit und Pflege. Die Reformpläne seien "letztendlich verfassungswidrig".

Gesundheitsversorgung in Bayern: Ein kleinteiliger Flickenteppich ist entstanden
Ob das zutrifft, wird irgendwann vielleicht tatsächlich das Verfassungsgericht entscheiden. Jedoch: Was das Gesundheitssystem angeht, macht der Bund Gesetze, die Länder planen die Krankenhäuser und die Umsetzung der Gesetze und Pläne verantworten die Kommunen. Und den Betrieb finanzieren die Krankenkassen. So ist ein kleinteiliger Flickenteppich entstanden, in dem manches von Landkreis zu Landkreis nicht mehr einheitlich ist. Das System leide "an den zersplitterten Zuständigkeiten", hielt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung über die Notfallmedizin in Deutschland fest. Mit Debatten über Verfassungsänderungen und Reformen versuchte jede Seite, ihre Partikularinteressen zu erhalten. Das sei "nicht zielführend" und "sogar eher kontraproduktiv", hielten die Studienautoren fest.
Eine grundsätzliche Neuordnung, so schwierig die im föderalen System umzusetzen sein wird, ist nun auch keine nachgerade absurde Idee. Aber die Bretter, die zu bohren sind, sind dicke; Streit mit Ländern oder Krankenkassen ist programmiert.
Zu spät werden alle diese Reformen für Roding kommen. Denn hier, im ostbayerischen Landkreis Cham, schloss die örtliche Klinik schon im Frühjahr 2022. Darum könnte ein Blick nach Roding aufschlussreich sein für das, was anderen Gemeinden in Bayern noch droht.
Gesundheitscampus ersetzt Krankenhaus in Roding
"Die endgültige Schließung war gar kein so großer Schnitt mehr. Wir haben uns ja im Grunde schon Jahre darauf vorbereitet", sagt Michael Jobst vom Verein "Pro Gesundheit Roding", der sich lange für den Erhalt der Klinik einsetzte, im Gespräch mit der AZ. Nach und nach bröckelte der Standort ab. Die Kreisstadt Cham liegt einfach sehr zentral, nur 15 Kilometer entfernt, auch die Notfallversorgung wird schrittweise dorthin verlagert. Nach Regensburg mit seinen großen Kliniken sind es gut 50 Kilometer. Und Menschen aus der Peripherie des Landkreises haben es nach Cham weniger weit als nach Roding. Roding liegt strukturell besser als das grenznahe Tirschenreuth.
Und anstelle des Krankenhauses ist in Roding ein Gesundheitscampus entstanden, wo sich unter anderem ein ambulantes Operationszentrum, Orthopäden, Neurologen und etwa eine Kinderintensivpflege angesiedelt haben. Die Notfallversorgung ist weggefallen, aber manches, was es vorher nicht gab, ist dazugekommen. Auch Magen- und Darmspiegelungen finden statt, was vorher nicht ging, und wonach es in einer alternden Gesellschaft eine große Nachfrage gibt. "Der Gesundheitscampus ist eine gute Anlaufstelle geworden für die Bevölkerung vor Ort", sagt Jobst.
Der Verein "Pro Gesundheit Roding" werde sich Ende des Jahres auflösen, sagt Jobst. Das Ziel, das Krankenhaus zu erhalten, habe man nicht erreicht. "Letztlich waren wir machtlos", sagt Jobst. Aber was positiver stimme: "Es gibt nicht nur dauernd schlechte Nachrichten", sagt Jobst. Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte werde auch: eröffnet, angesiedelt, eingeweiht.
Notfallversorgung wie in Rosenheim - die Zukunft?
Wie die Zukunft mit einem Integrierten Versorgungszentrum aussehen könnte, davon man am RoMed-Klinikum in Rosenheim einen Eindruck bekommen. Hier werden an einem der Notaufnahme vorgelagerten Schritt alle ankommenden Patienten nach Dringlichkeit priorisiert – wer kein ganz akutes Problem hat (Herzinfarkt, Platzwunde etc.), dem wird ein Termin in einer nahen Kooperationspraxis – oder in Randzeiten auch in einer direkt am Klinikum angesiedelten Bereitschaftspraxis – angeboten und dort auch sofort angemeldet. "Die Sicherheit von Patientinnen und Patienten und eine gleichzeitige Entlastung unserer Notaufnahmen durch enge Kooperation mit der Vertragsärzteschaft sind möglich", sagt Michael Bayeff-Filoff, Chefarzt der Notaufnahme am RoMed Klinikum.

Dass viele in die Notaufnahme kommen, die gar keine Notfälle sind – noch so ein Problem der deutschen Notfallversorgung, die immer der Prellbock für Organisationsfehler und Versorgungsengpässe ist. Insofern ist es kein schlechter Gedanke, die Patienten besser zu steuern. Wo es allerdings keine Praxen in der Nähe gibt, etwa weil ohnehin Ärztemangel herrscht, ist auch ein INZ schwer umsetzbar. Und das ist nun mal fernab der Städte öfter der Fall. Die Initiative "Schluss mit Kliniksterben in Bayern" erkennt darum in den Plänen einen "Anschlag auf eine gleichberechtigte klinische Notfallversorgung".
Gesundheitsversorgung in Bayern: Mancher Experte ist skeptisch
Auch andere sehen die Situation pessimistisch. "In Deutschland läuft man schon seit Jahren Richtung Kollaps", sagt Christof Chwojka von der Björn-Steiger-Stiftung. "Es ist nicht mehr die Frage, ob das System gegen die Wand fährt, sondern wie gut alle angeschnallt sind, die gegen die Wand fahren."
Aber könnte es sein, dass die Versorgung nicht zusammenbricht, sondern sich schlicht verändert – und solche Veränderungsprozesse nie reibungslos ablaufen? "Uns hat es früh erwischt mit der Schließung, wir scheinen da ein bisschen Vorreiter zu sein", sagt Michael Jobst vom Verein "Pro Gesundheit Roding". "Vielleicht war es am Ende aber auch ein gewisser Vorteil, vorne dran zu sein." Irgendwo in diesem Spannungsfeld wird der Umbruch stattfinden.