Meine Kindheit im Waisenhaus
74-Jähriger erinnert sich an seine Leidenszeit in einem christlichen Heim. Wie viele Zöglinge insgesamt zu Opfern wurden weiß niemand. Auch Richhard Sucker weiß nichts über die Gründe für seine Heim-Einweisung.
NÜRNBERG Richard Sucker ist Kampfsport-Lehrer mit schwarzem Gürtel. Doch wenn er über seine Kindheit im Heim erzählt, stockt dem Nürnberger die Stimme. Ihm kommen die Tränen. „Die Erzieher damals, das waren keine Menschen. Das waren Tiere“, sagt er leise.
Bis zu 1,5 Millionen Minderjährige, so schätzen Experten, waren in der Nachkriegszeit in 3000 Waisenhäusern und Erziehungsanstalten untergebracht – meist in kirchlicher Obhut, oft unter unmenschlichen Bedingungen. „Derzeit reden alle über dieses Waisenhaus in England. Schläge, Missbrauch, Zwangsarbeit – das gab’s auch bei uns“, sagt Regina Eppert, Vizevorsitzende des „Vereins ehemaliger Heimkinder e.V.“. Wie viele „Zöglinge“ zu Opfern wurden, weiß niemand genau. „Wir haben jetzt etwa 150 Mitglieder“, sagt Eppert. „Seit der Gründung 2004 haben Hunderte angerufen und nur geweint. Viele haben jahrzehntelang geschwiegen.“
Wie Richard Sucker, dessen Frau starb, ohne von seiner Vergangenheit zu wissen. Erst jetzt hat der 74-Jährige seine Geschichte veröffentlicht: „Die Geschichte eines Jungen, welcher vom Staat mit eineinhalb Jahren seiner Mutter weggenommen, in ein Waisenhaus gesperrt wurde und dann durch die Hölle gehen musste“, wie er in „Der Schrei zum Himmel“ (Engelsdorfer Verlag, 12 Euro) schreibt. Warum er dieses Schicksal erleiden musste, weiß Sucker nicht. Alle Akten über seine Familie wurden vernichtet.
Heim Odyssee
Suckers Heim-Odyssee führt über das heutige Polen und Österreich nach Franken, wo er in zwei Einrichtungen der evangelischen Rummelsberger Brüder untergebracht war. Mit sechs Jahren wird der unterernährte Bub zur Feldarbeit geprügelt. Besonders ein Bruder züchtigt die Kinder mit einem Ochsenziemer. „So brutal, dass mir das Blut an den Beinen herunterlief“.
Als er eines Tages zusammenbricht und ins Krankenhaus muss, glaubt sich Richard im Paradies. „Es war warm, man brauchte nicht arbeiten und es gab keine Prügel“, erinnert er sich. „Ich war damals zum ersten Mal richtig glücklich und dachte nicht an den Tod.“ Denn oft dachte der verzweifelte Bub daran, sich zu erhängen. Im Heim ist der Tod allgegenwärtig. „Oft sind welche gestorben“, sagt Sucker. „An Unterernährung, weil sie’s psychisch nicht gepackt haben, an Krankheiten oder den Prügeln.“ Eines Morgens ist der Bub in Richards Nachbarbett kalt und leblos. „Ich weiß nicht, woran er gestorben ist“, sagt Sucker. „Wir mussten alle aus dem Schlafsaal raus, er wurde abtransportiert. Wir durften nicht darüber sprechen.“ Kürzlich suchte Sucker auf dem Friedhof von Naila (Lkr. Hof) nach dem Grab des Buben. Vergeblich. „Kein Heimkind ist dort beerdigt, kein einziges. Da fragt man sich schon, was mit ihnen geschehen ist.“
Lange wurden die Zustände in den Heimen der Nachkriegszeit totgeschwiegen. Erst jetzt gab es Anhörungen vor dem Petitionsausschuss des Bundestages. Die Geschehnisse sollen aufgearbeitet, die Opfer entschädigt – und sozial betreut werden.
Richard Sucker sucht mit Hilfe des Roten Kreuzes nach seinen Wurzeln. „Ich möchte wissen, wer meine Familie war. Alle sind tot, aber ich will wissen, wo und wie sie gelebt haben.“ Für die Zwangsarbeit im Heim hat er nie einen Pfennig gesehen.
Natalie Kettinger
Betroffene berät der Verein ehemaliger Heimkinder e.V.
Tel. 040 - 530 22 034