Kohlen-Notstand in Bayern 1947: Frieren, hungern, hoffen

Am 23. Januar 1947 erklärt die Militärregierung den Kohlen-Notstand für Bayern. Daraufhin bricht das öffentliche Leben größtenteils zusammen. Der AZ-Reporter Karl Stankiewitz blickt zurück.
von  Karl Stankiewitz
Symbolbild einer schweren Zeit: Eine Frau sammelt in einem Winter um 1946 bei Regensburg Holz.
Symbolbild einer schweren Zeit: Eine Frau sammelt in einem Winter um 1946 bei Regensburg Holz. © Ullstein-Verlag - Oscar Poss

München - Der zweite Winter nach dem Zweiten Weltkrieg hat das ausgepowerte Land hart im Griff. Am 7. Januar kommt eine zweite Kältewelle. Vielerorts werden Minusgrade bis zu 26 Grad gemessen. Am selben Tag notiert der Münchner Stadtchronist: "Brennstoffmangel führt zu vielen Erkältungskrankheiten." Zahllose Kinder leiden an Krätze, als deren Ursache das bayerische Wirtschaftsministerium "eine außerordentliche Knappheit an dafür benötigten Fetten und Säuren" nennt.

Herbst 1946: Hungersnot durch Missernten

Besserung ist nicht in Sicht. Denn viel zu gering sind die amtlichen Kohlezuteilungen aus dem britisch besetzten Ruhrgebiet, zumal die Transporte oft unterwegs geplündert werden. Schlimmer noch: Seit Oktober 1946 stocken - wegen Missernten und aus anderen Gründen - auch die Lebensmitteltransporte aus ländlichen Gebieten, so dass im Agrarland Bayern, besonders in den großen Städten, eine schreckliche Hungersnot herrscht. Eine amerikanische Kommission meldet nach einer Inspektionsreise: "Ansteigen der Tuberkulose ... beleuchtet die Ernährungskrise sehr eindringlich." In vielen bayerischen Betrieben steigt der Krankenstand auf 35 Prozent. All das macht die wirtschaftliche Lage bei Jahresbeginn zur Katastrophe.

Die Hoffnung auf Ende der Kälte geht nicht in Erfüllung

Kälte und Brennstoffmangel treffen natürlich in erster Linie die als "Normalverbraucher" abgestempelte Wohnbevölkerung, die wegen des Zustroms von Heimatvertriebenen, Flüchtlingen, heimkehrenden Kriegsgefangenen und Ausgebombten im (um die Rheinpfalz verkleinerten) Bayern um 1,4 Millionen Menschen gewachsen ist.

Viele Menschen hausen immer noch in kaum heizbaren Kellern oder Baracken. Sie sammeln "Klaubholz" und Strauchwerk oder schlagen Brennholz in umliegenden Wäldern, was mit bis zu fünf Jahren Gefängnis geahndet wird. Notfalls wird holzartiger Hausrat verheizt; der stinkende Qualm aus provisorisch durch Fenster ragende Rohre gehört zu meinen Nachkriegserinnerungen. Eigentlich sollen wir 18-Jährigen fürs Abitur pauken, doch der Unterricht in dem nach Schwabing evakuierten Gymnasium fällt immer öfter aus. "Kohleferien".

Brennstoffversorgung: Schulen als "unwichtige Betriebe" ausgeschlossen

Ahnungsvoll schreibt Helmuth Guthmann (später Gerichtsreporter der im Mai 1948 gestarteten Abendzeitung) in unserer Schülerzeitung "Der Funke": "Viel Mühe wird uns begleiten, viel Leid sich in unsere Seelen eingraben. Der Alltag mit seinen Sorgen und Entbehrungen wird uns gefangen nehmen." Trotzig titeln wir den Leitartikel vom 9. Januar 1947: "Wir haben eine Hoffnung".

Fatal ähnelt die Schulmisere, wie sie Jugendliche, Eltern und Ämter überall in Bayern erdulden mussten, heutigen Zuständen. "Unterrichtsausfälle bis zu 150 Schultagen waren keine Seltenheit", heißt es in einer Dissertation von Sibylle Deffner. In einem Schreiben an die "Landesstelle Kohlen" empört sich der Oberbürgermeister von Kulmbach, dass Schulen als "unwichtige Betriebe" von der Brennstoffversorgung ausgeschlossen werden.

Eine Art Homeschooling versucht Fürth: "Für jede Klasse ist täglich mindestens eine Stunde Unterricht anzusetzen, in der die Schüler mit ausreichenden Aufgaben versehen werden. Die gefertigten Aufgaben sind von den Lehrkräften zu Hause durchzusehen und in der nächsten Stunde zu besprechen." In kleineren Orten behilft man sich mit "Holztagen": Die Schüler müssen dann ein paar Scheite mitbringen.

In München zeigt das Thermometer minus 20 Grad

Am Stadtrand Münchens fällt das Thermometer auf bis zu minus 20 Grad - nur fünf Mal war es im 20. Jahrhundert dermaßen kalt. Gaskessel frieren ein, Pumpen fallen aus, daher kommt das Trinkwasser in manchen Häusern nicht mehr in die oberen Stockwerke. Am 12. Januar ruft Oberbürgermeister Karl Scharnagl (CSU) im Rundfunk obendrein den Wassernotstand aus und mahnt zu sparsamem Verbrauch. Am selben Sonntag kritisiert der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher im Circus Krone die Besatzungspolitik und warnt vor einem drohenden Misstrauen gegen die Demokratie.

Am 23. Januar endlich schaltet die US-Militäradministration auf Alarmstufe Rot. Mit Ausrufung des Kohlen-Notstands wird die ohnedies knappe Zuteilung von Brennstoff drastisch eingeschränkt. Die Prioritäten locken zum Vergleich mit dem derzeitigen Lockdown. An erster Stelle stehen Elektro-, Gas- und Wasserwerke. Es folgen Lebensmittelbetriebe und Gaststätten, dann die Nahrungs- und Düngemittelindustrie. Und schließlich dürfen auch Krankenhäuser, Eisenbahnreparaturwerkstätten, Arzneimittelhersteller und Zulieferer für die US-Armee mit Brennmaterial versorgt werden.

Bayerische Regierung gibt 50-Millionen-Kredit

Schulen kommen in den "Vorrangbetrieben" nicht vor. Altenheime auch nicht; dort werden Raumtemperaturen bis minus zehn Grad gemessen. Am Landgericht werden alle Verhandlungen abgesagt, Verurteilungen storniert. Der elektrische Zugbetrieb wird erheblich eingeschränkt, für die Straßenbahnen gelten "Abschalttage". Universität und Technische Hochschule müssen zwei Tage nach Wiedereröffnung den Vorlesungsbetrieb auf unbestimmte Zeit einstellen. Ganz besonders, fast so wie heute, leidet die Kultur. Nach und nach müssen die meisten Theater schließen. Für Vorstellungen in den Kammerspielen sollen die Münchner Briketts mitbringen.

Immerhin kann ich gerade noch über das aufwühlende Kriegsstück des jungen Schweizer Autors Max Frisch für unsere Schülerzeitung, übrigens die erste im Nachkriegs-München, begeistert berichten. Zwei grandiose Schauspieler sind mir aus der deutschen Erstaufführung von "Nun singen sie wieder" in Erinnerung: der völlig abgemagerte Bruno Hübner und der kriegsversehrte Gerd Brüdern. Der elektrische Strom wird wegen des Kohlemangels jetzt überwiegend aus kleinen Wasserkraftwerken gewonnen. Das reicht bei weitem nicht. Deshalb werden der Industrie, mit Ausnahme lebenswichtiger Betriebe, am 29. Januar "stromlose Tage" verordnet.

Am selben Tag beschließt Bayerns erster demokratisch gewählter Landtag Lohnausfälle durch Kohle-, Strom- und Gasmangel zu vergüten. Am 11. Februar verkündet Wirtschaftsminister Rudolf Zorn (SPD) ein Programm zur Linderung des "furchtbaren Notstands", wozu auch ein 50-Millionen-Kredit für Hauptbetroffene gehört.

Manche Politiker nutzen die Krise für ihre Zwecke

Natürlich frieren auch die Politiker. Aber einige nützen die Krise, um daran ihr Süppchen zu wärmen. Eine "Wirtschaftliche Aufbauvereinigung" (WAV), die Unzufriedene sammelt, ist mit 13 von 180 Abgeordneten in den ersten Nachkriegslandtag eingerückt. WAV-Führer Alfred Loritz verlangt die Freigabe der Wälder, damit Stadtbewohner selbst Bäume fällen können, um Wohnungen zu beheizen oder sich Häuser zu bauen.

Als Sonderminister für Entnazifizierung unter Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) lockt Loritz, der Elsers Hitler-Attentat von 1939 angestiftet haben will, die vielen kleinen Nazis, indem er sie als "Hineingepresste" entschuldigt. Bald wird der Populist und Querdenker wegen Meineids und Schwarzmarktgeschäften verhaftet; er flieht und startet ein abenteuerliches Comeback quer durch die deutsche Politik. Doch das ist eine andere Geschichte.

Zur Geschichte des Hunger- und Kältejahres 1947 gehört indes auch - wie im NS-Dokumentationszentrum in München belegt ist - das Wiedererwachen des deutschen Rechtsextremismus. Im Januar und Februar verüben Unbekannte, wahrscheinlich der SS entstammend, Sprengstoff- und Bombenanschläge auf bayerische Spruchkammern zur Entnazifizierung, auf Geschäftsstellen von SPD und KPD sowie auf amerikanische Dienststellen. Es geschieht hauptsächlich in Nürnberg, wo kurz zuvor die Hauptschuldigen am Krieg und der nachfolgenden Krise verurteilt wurden.

 

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