Julana, 12, trans*: Vom Weg zum richtigen Ich

Geboren wird sie im Körper eines Buben. Schon früh aber fühlt sie: Das stimmt so nicht. Kann ein Mensch das schon in so jungen Jahren wissen?
| Carmen Merckenschlager
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Gerade trägt Julana am liebsten schwarze Klamotten - mal Hosen, mal Kleider. Ringe und Ohrringe gehören aber immer mit zum Outfit.
Gerade trägt Julana am liebsten schwarze Klamotten - mal Hosen, mal Kleider. Ringe und Ohrringe gehören aber immer mit zum Outfit. © Merckenschlager

Familie Gleisenberg lebt mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stadt im Allgäu am Rande von Bayern. Über ihren jüngeren Sohn heißt es früh, er sei ein schwieriges Kind. Er wolle im katholischen Kindergarten lieber mit Mädchen und Puppen spielen, weine viel.

"Julana hat damals nie ganz der Norm entsprochen" 

Den Eltern ist klar, dass ihr Kind oft unglücklich ist und nicht ganz dazugehört. Auf Fotos des Kindes lache immer nur der Mund, nie die Augen. Heute sagt ihr Vater, der sich selbst JC nennt und aus der Oberpfalz stammt: "Julana hat damals nie ganz der Norm entsprochen. Später war dann auch klar, warum."

Ihrem jüngeren Kind wird bei der Geburt das Geschlecht "männlich" zugewiesen. Heute ist Julana offiziell ein Mädchen. Ihr Ausweis bestätigt das, ihre Geburtsurkunde wurde geändert. Über ihren Weg hat die Zwölfjährige gemeinsam mit ihrem Vater ein Buch geschrieben, in dem sie von ihrer Entwicklung erzählt.

Julanas Vater: "Ich habe immer versucht, meine Kinder von der Thematik fernzuhalten"

Denn die heute 12-jährige Julana musste vor drei Jahren selbst allen Mut aufbringen, als sie ihrem Vater das erste Mal sagt, warum sie glaubt, anders zu sein als alle anderen Kinder: An einem Donnerstag im Januar vor drei Jahren will Vater Gleisenberg eine Dokumentation über eine Transperson im Fernsehen anschauen.

Toleranz, Offenheit und alles im Familienrat besprechen: die Devise der Gleisenbergs.
Toleranz, Offenheit und alles im Familienrat besprechen: die Devise der Gleisenbergs. © Michael Hornfischer

Er selbst engagiert sich seit Jahren in einem kleinen Verein für Toleranz und Akzeptanz normabweichender Lebensrealitäten. Toleranz in allen Lebensbereichen ist ihm wichtig, so wurde er erzogen, sagt er. Sein damals neunjähriges Kind schickt er nach draußen, denn: "Ich habe immer versucht, meine Kinder von der Thematik fernzuhalten, solange sie klein sind."

Doch der Nachwuchs bleibt im Zimmer, leise. Gleisenberg merkt es nicht. Als der Beitrag vorbei ist, sagt sein Kind: "Papa, ich muss dir was sagen. Ich bin eigentlich ein Mädchen."

Der Vater ist sprachlos. Dann nimmt er sein Kind in den Arm. Heute sagt Vater Gleisenberg: "Es ist schon komisch. Ich war in dem Thema drin und habe es die ganzen Jahre nicht gemerkt. Aber nach und nach machte alles Sinn."

Gleisenberg weiß durch sein Engagement im Verein zum Beispiel, dass sein Kind eine Transidentität hat und das nichts mit Sexualität zu tun hat. Situationen, in denen Julana geweint hat oder schwierig war, sieht der Vater heute so: "Sie hat sich verhalten wie ein Mädchen. Aber alle haben nur einen Jungen gesehen."

Sozialpädagogin: "Mit Sexualität hat das nichts zu tun"

Dass Kinder schon sehr früh definieren können, in welchem Geschlecht sie leben, erklärt Jasmin Faulstich, Sozialpädagogin und Leiterin der queeren Beratungsstelle "up2you" in Landshut. "Jedes Kind kann für sich sagen, welchem Geschlecht es sich zuordnet und nimmt den eigenen Körper wahr. Kinder spüren sehr genau, wenn etwas nicht stimmt. Egal ob sie das Konzept der Transidentität kennen oder nicht."

Bei allen anderen Kindern werde nur nie danach gefragt. Mit Sexualität habe das nichts zu tun. Mit dem eigenen Empfinden und Wohlbefinden hingegen schon. Als Gleisenberg und sein Kind damals der Mutter erzählen, was eben vor dem Fernseher passiert ist, ist die erst einmal geschockt.

Julana: "Ich habe vor der Klasse gesagt, dass ich ein Mädchen bin"

"Aber dann saß da mein Kind, das mir in vollster Überzeugung gesagt hat:  'Mama, ich bin kein Junge. Ich bin ein Mädchen!'" Wie sie sich verhalten soll, weiß sie zuerst nicht. Was sie weiß: Es ist ihr Kind - dem es gut gehen soll. "Wir haben viel geredet und dann beschlossen: Wir probieren einfach mal ein Wochen-ende aus, wie es ihr geht, wenn wir sie wie ein Mädchen behandeln." Auch der zwei Jahre ältere Bruder ist einverstanden. Doch die Eltern warnen ihr Kind: Sie solle sich außerhalb der Familie noch zurückhalten, noch nicht allen erzählen, was sie den Eltern anvertraut hat. Zu groß ist die Angst vor negativen Reaktionen der Schule und der Klassenkameraden.

Julana sieht das damals anders. "Ich habe mich vor die Klasse gestellt und gesagt, dass ich ein Mädchen bin", erzählt Julana heute, lacht dabei, zieht die Schultern hoch und verdreht die Augen.

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Was in der Schule folgt, ist viel Unverständnis, Julana muss zum Direktor und zum Schulpsychologen, erzählt der Vater. "Julana wurde dann eingeredet, sie bilde sich das alles ein", erinnert er sich. Der Umgang mit seinem Kind hätte besser funktionieren müssen. Denn die Reaktionen auf ihr Outing machen Julana wieder sehr unglücklich. In der Schule wird sie gemobbt. Der Wunsch, als Mädchen gesehen zu werden, wird dadurch nur stärker.

Psychotherapeutin: Kinder können es schon früh wahrnehmen

Sabine Klemz, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Mitglied des Qualitätszirkels Transsexualität in München, sagt zu der Aussage an der Schule: "Das ist eine sehr schwierige Aussage. Die Kinder sind ohnehin verunsichert. So werden zusätzliche Zweifel gesät und im schlimmsten Fall ziehen sie sich noch mehr zurück, weil sie glauben, ihren Gefühlen nicht vertrauen zu dürfen." Manche Kinder spüren laut der Psychotherapeutin schon sehr früh, dass sie sich ihrem Geschlecht nicht zugehörig fühlen. "Eine eingebildete Geschlechterinkongruenz gibt es nicht", sagt Klemz.

Die Eltern beginnen damit, Julana mit dem Pronomen "sie" anzusprechen. Die Mama fragt, ob sie ein Kleid anziehen möchte. Zuerst lehnt Julana ab, dann mag sie es doch ausprobieren. "Wie mein Kind dann plötzlich gestrahlt hat, ist unfassbar. Sie war ein anderer Mensch - sie war auf einmal sie selbst", erinnert sich der Vater. Julana lebt jetzt als Mädchen, darf sich selbst den neuen Namen aussuchen. "Das war so cool, als wir den Namen an meiner Zimmertür ausgetauscht haben", schwärmt Julana.

Mama Gleisenberg: "Dann habe ich gemerkt, wie glücklich mein Kind ist"

So offen wie im Fall Julana reagieren nicht alle Eltern. Dabei ist es gerade die Liebe und die Unterstützung der Eltern, die für die Entwicklung des Kindes essenziell sind, weiß Jasmin Faulstich. "Das Wichtigste ist, dass das Kind geliebt und unterstützt wird. Durch unsere heteronormativ geprägte Gesellschaft ist das für viele nicht immer leicht. Deshalb müssen wir manche sozial anerzogenen Strukturen aktiv verlernen", sagt die Sozialpädagogin. Im Fall Julana seien die Eltern ihrem Kind sehr offen und liebend entgegengetreten.

Weil die Eltern bald wissen, wie ernst es ihrem Kind ist, gehen sie mit ihm zum Psychologen. Es folgen zwei unabhängige Gutachten, die ebenfalls zu dem Schluss kommen: Die geschlechtliche Identität von Julana ist weiblich.

Mama Gleisenberg sagt heute, dass es sehr wohl eine Zeit gab, in der sie um ihren "verlorenen Sohn" getrauert hat. "Aber dann habe ich gemerkt, wie glücklich mein Kind ist. Ich habe also eine Tochter dazugewonnen", sagt sie. Es folgen Gespräche mit Verwandten, Freunden, Großeltern und dem Pfarrer. Die Resonanz ist - trotz mancher Angst vor den Reaktionen - durchweg positiv. Alle merken, wie gut sich das einst so unglückliche Kind entwickelt.

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Auch der Staat erkennt Julana inzwischen als Mädchen an

In ihrem direkten Umfeld wird Julana bald komplett als Mädchen akzeptiert. Auf dem Papier dauert der Weg der Transition - dem Weg von einem ins andere Geschlecht - länger. Die psychologischen Gutachten, richterliche Beschlüsse, Besuche bei Ärzten, Schwierigkeiten mit den Behörden. "Dieser Prozess kostet enorm viel Energie, Kraft, Zeit und Geld", weiß auch Faulstich. "Dieser Weg ist wirklich schwer. Niemand sucht sich das freiwillig aus", sagt die Leiterin der Beratungsstelle.

Kürzlich wurde das Thema Transidentität sogar bei der Sendung mit der Maus thematisiert. Nach kräftezehrenden zwei Jahren steht Julana am 25. Mai 2021 in München vor einem Gerichtsgebäude. In der Hand hält sie den Zettel, der ihr offiziell bestätigt: Auch der Staat erkennt sie nun als Mädchen an.

Inzwischen bekommt Julana auch Hormonblocker, die das Einsetzen der Pubertät verlangsamen. Ab November soll sie weibliche Hormone bekommen. Denn was Julana merkt: Die Mädchen in ihrer Klasse entwickeln weibliche Körper. Die Frage nach einer geschlechtsangleichenden Operation ist für sie kein Thema. Nicht jetzt, nicht solange sie Kind ist. "Wenn sie erwachsen ist, kann sie das selber entscheiden", sagt ihr Papa.

Derweil will die Familie ihre Tochter auf ihrem Weg weiter unterstützen, wo es nur geht. Julana geht zur Ergo- und Reittherapie. Denn auch wenn sie in ganz vielen Momenten glücklich und unbekümmert wirkt, hat sie eine schwere Zeit hinter sich. "Neun Jahre nicht als die gesehen zu werden, die man ist: Die Umstellung vergisst man nicht von heute auf morgen", sagt Vater Gleisenberg im Interview. Seine Tochter sagt dazu "Ja, stimmt" und nickt.

Wenn Julana heute zurückdenkt, weiß sie: Mit vier oder fünf war ihr schon klar, dass sie anders ist. Oft hat sie deshalb in das Fell ihres Katers Snow geweint. "Er hat mir ganz oft geholfen, wenn ich traurig war", sagt das Mädchen mit dem geflochtenen Zopf und den Ohrringen.

Julana geht mittlerweile in die 5. Klasse am Gymnasium bei der Familie am Ort. Gerne zockt sie mit ihrem Bruder am Computer, baut Lego und spielt Gesellschaftsspiele oder Bass. Ihr großes Vorbild ist Timothy B. Schmidt von den Eagles. Ihr Lieblingslied: "Love will keep us alive", das kann sie mittlerweile auf dem Bass.

JULANA - ENDLICH ICH! Mein Weg vom Jungen zum Mädchen.
JULANA - ENDLICH ICH! Mein Weg vom Jungen zum Mädchen. © basic erfolgsmanagement

Julana hat mit ihrem Vater ein Buch geschrieben

"Julana hat, seit sie sein kann, wer sie wirklich ist, so große Sprünge gemacht, was die Musik und so viele andere Dinge angeht. Das ist irre", erzählt der Vater stolz. Sie müsse sich nicht mehr mit Anpassung beschäftigen, sondern wie jeder andere angehende Teenager nur noch mit sich selbst.

Julana hat einen Traum: "Ich will mal Schmiedin werden!" Ob das nicht ein Männerberuf sei? "Nö, typisch Junge, typisch Mädchen ist doch Quatsch", erklärt sie. Im vergangenen Jahr hat Julana mit ihrem Papa dann das Buch "Julana - Endlich ich!" geschrieben. "Ich will anderen damit helfen, dass sie es leichter haben. Das sehe ich als meine Pflicht", erzählt sie, als wäre sie auf einen Schlag weise wie eine 70-Jährige. Denn einfach sei ihr Weg auf keinen Fall gewesen. Auch jetzt brauche sie manchmal noch Zeit nur für sich allein. Julana: "Aber dann geh' ich einfach in mein Zimmer."

Die Zwölfjährige sagt, der liebe Gott hätte ihr eben einfach nur den falschen Körper zugewiesen, und dass Fehler halt mal passieren. Aber ein Mädchen war sie im Herzen schon immer. Und wenn sie vor einem Jahr noch gesagt hat "Hallo, ich bin Julana und ein trans Kind", sagt sie heute nur noch "Hallo, ich bin Julana!" und ist damit so glücklich und frei, wie sie es als Bub für sich nicht sein konnte.

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