Der Pflege geht das Geld aus - und jetzt?

Berlin/München - Es war ein beispielloser Vorgang: Die Landwirtschaftliche Pflegekasse der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau aus Kassel musste, so wurde Anfang der Woche bekannt, als erste Pflegekasse Finanzhilfen beantragen, um eine Pleite abzuwenden.
Am Freitag veröffentlichte Daten des GKV-Spitzenverbandes der Kranken- und Pflegekassen zeigen: Das dürfte erst der Anfang sein.
"Der Pflege steht das Wasser bis zum Hals"
Im vergangenen Jahr verzeichnete die soziale Pflegeversicherung ein Minus von 1,54 Milliarden Euro, teilte der GKV in Berlin mit. Heuer rechne man mit einem Defizit von rund einer halben Milliarde Euro.
"Der Pflege steht das Wasser bis zum Hals", sagte die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer. Im Laufe des Jahres würden "voraussichtlich weitere Pflegekassen auf kurzfristige Unterstützung zur Sicherung ihrer Liquidität angewiesen sein."
Auch andere Kassenverbände schlagen Alarm. Aus der bayerischen Landesvertretung des Verbands der Ersatzkassen (vdek) heißt es auf AZ-Anfrage, die finanzielle Situation der sozialen Pflegeversicherung bleibe "weiterhin angespannt".

Deutlicher wurde bereits die Vorständin des Dachverbands der Betriebskrankenkassen (BKK), Anne-Kathrin Klemm. Auch sie warnte explizit vor der Zahlungsunfähigkeit mehrerer Pflegekassen.
Weitere Pleiten von Pflegekassen "eine Frage der Zeit"
Auf AZ-Nachfrage teilte der BKK mit, bei einer unveränderten Ausgabenpolitik sei es "eine Frage der Zeit", wann weitere Pflegekassen Liquiditätsprobleme haben werden. Konkrete Angaben, welche Kassen es treffen könnte und wie die Lage in Bayern ist, konnten auf AZ-Nachfrage weder der BKK noch die anderen Verbände machen.
Immerhin den kritischen Zeitrahmen hat die GKV nun abgesteckt: Nach jetzigem Stand könne bis zur Jahresmitte die Liquidität des Pflege-Ausgleichsfonds und damit die Zahlungsfähigkeit aller Pflegekassen gesichert werden, hieß es am Freitag. Diesen Ausgleichsfond verwaltet das Bundesamt für soziale Sicherung (BAS), er ist quasi eine Notfall-Reserve für die Pflege.
BKK-Vorständin nennt Beitragserhöhungen "unausweichlich"
Doch auch dieser Fonds laufe "langsam leer", warnte GKV-Chefin Pfeiffer. So seien die dort vorhandenen Mittel im Laufe des vergangenen Jahres von anfangs 1,8 Milliarden Euro auf eine Milliarde Euro geschrumpft. Ohne zusätzliche Mittel werde der Fonds in wenigen Monaten ausgeschöpft sein.
Wie also kann die finanzielle Lage der Kassen stabilisiert werden? Am Ende müssen es womöglich die Beitragszahler ausbaden. BKK-Vorständin Klemm warnte, weitere Beitragserhöhungen seien "unausweichlich, wenn die neue Bundesregierung nicht mit Sofortmaßnahmen die Pflegeversicherung stützt".
Auf AZ-Anfrage heißt es konkret: Wenn die Politik nichts unternehme, werde die Pflegeversicherung noch 2025 eine Beitragssatzerhöhung um 0,15 bis 0,2 Prozentpunkte brauchen.
Lauterbachs Einschätzung geht "an der Realität vorbei"
Der noch amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte mit einer Beitragserhöhung um 0,2 Prozentpunkte im Januar versucht, die Finanzlage zu stabilisieren - und beteuert, dies reiche in 2025 für die Pflegekassen aus.
Eine Einschätzung, die der pflegepolitische Sprecher der bayerischen Landtags-Grünen, Andreas Hanna-Krahl, nicht teilt. "Das geht völlig an der Realität vorbei", sagt er der AZ. Selbst wenn massiv gegengesteuert würde, komme man nicht umhin, über Beitragserhöhungen zu reden. Die Lage sei angespannt, auch in Bayern.

Und: Durch den demographischen Wandel wird der Druck aufs System weiter steigen. Schon jetzt zahlen etwa Bewohnerinnen und Bewohner von bayerischen Pflegeheimen einen Eigenanteil von knapp 2400 Euro im Monat. Damit liege man im oberen Mittelfeld, so Krahl. Weitere landesspezifische Baustellen nennt der Sozialverband VdK Bayern: Es fehle, insbesondere im ländlichen Raum, an ambulanter Versorgung, sagt die Landesvorsitzende Verena Bentele der AZ. "Und auch Pflegestützpunkte gibt es bayernweit immer noch viel zu wenige."
Hanna-Krahls Wunschlösung: ein "weißes Blatt Papier", auf dem eine echte Pflegereform ausgehandelt werde. Diese Forderung teilt auch der Sozialverband VdK. Den Willen dazu haben Union und SPD in ihren Sondierungen für eine neue Bundesregierung bekräftigt, noch gibt es aber keine konkrete Ausgestaltung.