Der Gaza-Sniper aus München: Vom bayerischen Abi mitten in die Hölle des Krieges
Die Straße im Münchner Süden misst keine 200 Meter. Spatzen zwitschern, sonst ist es still. Vor dem dreistöckigen weißen Haus mit Balkon parken ein paar Autos. Eine freundliche Frau öffnet im Erdgeschoss die Tür. Als ihr bewusst wird, dass ein Journalist der AZ vor ihr steht, hält sie kurz inne.
"Daniel wohnt schon seit sechs Jahren nicht mehr hier", sagt die Mutter. Er sei auch gerade nicht da. Ob sie ihm eine Nachricht ausrichten könne? Die Mutter schüttelt den Kopf. "Er würde sowieso nicht antworten." Wo genau sich ihr deutsch-israelischer Sohn zurzeit aufhält, will sie nicht so recht sagen. Er habe Deutschland vor wenigen Wochen verlassen, behauptet zumindest eine Nachrichtenseite in Israel.
Münchner soll bei Tötungen von Zivilisten im Gazastreifen beteiligt gewesen sein
Die Frage könnte bald auch Behörden umtreiben. Seit Oktober 2024 hat die Bundesanwaltschaft den 25-Jährigen schon im Blick – das legt eine der AZ vorliegende Bundestagsanfrage des Passauer Linken-Abgeordneten Luke Hoß offen. Den Mann treffen schwere Vorwürfe.

Er soll in einem Scharfschützen-Duo im Dienst für das israelische Militär im Gazastreifen an der Tötung von augenscheinlich unbewaffneten Zivilisten beteiligt gewesen sein. Entsprechenden Hinweisen ist ein investigatives Rechercheteam um "Spiegel", "ZDF frontal", "Paper Trail Media", "Guardian" und "Arab Reporters for Investigative Journalism" nachgegangen. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Wer ist der 25-Jährige und was zog ihn nach Gaza?
Bevor Daniel G. sich als Sniper den israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) angeschlossen hat, wuchs er in München auf und ging auf ein Gymnasium unweit des Englischen Gartens. 2019 macht er dort Abitur – es folgt die Zeit der Richtungsentscheidungen. Manche beginnen eine Ausbildung, andere ein Studium. Der junge Mann wählt Israel – zumindest taucht er einige Jahre später beim Militär auf.
Zum erfolgreichen Abschluss beglückwünscht ihn vor sechs Jahren noch Charlotte Knobloch (92) persönlich – zusammen mit wenigen anderen Schülern, die offenbar jüdische Religionslehre als Abiturfach gewählt hatten. Ein Foto in der "Jüdischen Allgemeinen" hält die Szene fest.
"Ab in die Zukunft" steht als Schlagzeile darüber. Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, steht in der Mitte, Daniel G. am Rand. Er grinst, trägt leichten Bartwuchs. Mittlerweile ist das Foto im Artikel verschwunden, kursiert jedoch weiter auf Sozialen Medien.
"Dass ausgerechnet er mal Sniper in Gaza wird"
Ein ehemaliger Mitschüler aus dem Abiturjahrgang erinnert sich im Gespräch mit der AZ: Zurückhaltend sei Daniel gewesen, freundlich, ruhig, religiös. "Dass ausgerechnet er mal Sniper in Gaza wird, hätte wohl niemand gedacht." Mit Namen zitieren lassen will sich keiner. Genau wie in der gesamten Recherche. Die meisten Personen und Behörden teilen nur Hintergrundinformationen.
Daniel G.: schlanke Statur, dunkle Haare, beide Ohren halb bedeckt. Mal mit, mal ohne Bart. Sein Jahrgang sorgte beim Abistreich für Schlagzeilen – sie haben Stripper in die Aula bestellt, berichtete einst der BR. Und im Sommer haben die Schüler dann in der Muffathalle gefeiert. Was sich junge Leute eben so alles einfallen lassen.
Seine Mutter ist offenbar gut vernetzt in der Israelitischen Kultusgemeinde, das zeigen diverse Bilder von Veranstaltungen. Ursprünglich stammen die Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion, lernten sich laut einem Beitrag einer österreichischen Zeitung, den beide auch online geteilt haben, in Israel kennen. Wenige Monate vor Kriegsausbruch unterschreibt die gesamte Familie noch eine Solidaritätsbekundung für eine umstrittene Islamismusforscherin.
Terrorangriff der Hamas treibt Familie um – dann marschiert Daniel G. in Gaza ein
Als die Terrororganisation Hamas dann am 7. Oktober 2023 Israel angreift, hinterlässt das Spuren. Etwa 1200 Menschen werden in Israel ermordet, rund 240 als Geiseln verschleppt. Der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Wie sehr dieses Massaker die Familie von Daniel G. aufwühlt, offenbart das öffentliche Facebook-Profil der Mutter: 2012 ein Foto mit ihren Söhnen – und kaum politische Posts. Nach dem 7. Oktober füllt sich ihr Profil mit zum Teil regierungsnahen Kriegsinhalten.

Daniel G. marschiert in Gaza ein, als Israel seine Militäroffensive startet, dokumentieren Videos. Er taucht darin neben mutmaßlichen Mitgliedern des neunten Zugs der Hilfskompanie des 202. Fallschirmjägerbataillons auf. Eine Eliteschützeneinheit mit vielen Doppelstaatlern aus aller Welt ("Geister-Einheit").
Mit dem Finger am Abzug: Videos dokumentieren Tötungen
Teile von Gaza gleichen im November 2023 einem Trümmerhaufen. Zusammengeschnittene Videoaufnahmen legen nahe, dass Daniel G. selbst als Scharfschütze tätig ist. Ein Clip zeigt den jungen Mann vor einer Fensteröffnung. Er trägt einen Helm, blickt durch das Visier eines aufgerüsteten Sturmgewehrs. Finger am Abzug.
Ein Kamerad hatte die Szenen im April 2024 als Teil eines Videos auf Youtube hochgeladen – mittlerweile gelöscht, aber in Internetarchiven nach wie vor gespeichert. Siebeneinhalb Minuten, unterlegt mit heroischer Musik aus Vietnam, das ergibt eine Shazam-Suche.
Die Bilder erinnern an fiktive Ego-Shooter-Spiele: Soldaten patrouillieren durch Ruinen, laufen an einer Leiche vorbei, Wärmebild-Clips mit Explosionen, Panzer feuern. Und: Ein Schnipsel zeigt einen tödlichen Schuss durch einen Soldaten auf eine augenscheinlich unbewaffnete Person. Außerdem: In einer Drohnenaufnahme ist ein Kopfschuss zu erkennen – auf jemanden, der sich über eine Leiche beugt.
Ein Journalist brachte den Fall ins Rollen
Younis Tirawi, palästinensischer Journalist und Aktivist, stößt damals auf dieses Material und bringt den Fall um Daniel G. einige Monate später ins Rollen. "Ich bin ein palästinensischer Journalist und berichte seit dem Ausbruch des Krieges über die Lage in Gaza", sagt er in einem Video. "Seit Kriegsbeginn verfolge und identifiziere ich Tausende von israelischen Soldaten auf den Sozialen Medien."

Für die Recherche lockte Tirawi 2024 einen von Daniels Kameraden unter falschem Vorwand in ein Videointerview -den US-Amerikaner Daniel R. (24) aus einem Vorort von Chicago. Eigenen Angaben zufolge spielt der Journalist die Youtube-Aufnahmen, auf die er zuvor gestoßen war, vor – und veröffentlicht das Gespräch später auf X. Sein Video hat das Fraunhofer-Institut im Auftrag des Investigativteams geprüft. Ergebnis: keine Hinweise auf Manipulation.
Es geht um eine Szene unweit eines großen Krankenhauses
Der Amerikaner spricht über den Deutschen Daniel G: Die beiden seien ein Scharfschützen-Duo gewesen. "Zemed" – Partner auf Hebräisch. Zusammen im Einsatz unweit eines Krankenhauses, in dem die israelische Armee eine Hamas-Zentrale vermutete. Die UN teilten damals in einem Schreiben mit, dass Tausende Vertriebene in und um die Klinik Schutz gesucht hätten, "darunter auch Patienten, die zu krank seien, um verlegt zu werden".
Dann sieht der Amerikaner ein Schuss-Video von dort: "Das war meine erste Tötung", schildert R. die Szene. Ein Mann habe sich über einen Toten gebeugt. "Ich wusste nicht, was er da machte. Er kam, um ihn wegzuziehen, er beugte sich und ich schoss eine Kugel und traf ihn in den Kopf." War das Ziel bewaffnet? Zumindest nicht erkennbar. "Aber er befand sich in einer Kampfzone." Ob das Opfer tatsächlich ein Terrorist war, bestätigt R. nicht eindeutig.
US-amerikanischer Partner belastet den Münchner Sniper
Auch seinen deutschen Kameraden belastet der Amerikaner, indem er ihn als Partner identifiziert. Vier Leute seien rund um das Krankenhaus durch die beiden am 22. November 2023 getötet worden, sagt R. Laut dem Investigativteam waren sie alle Teil einer Großfamilie, die als Hamas-kritisch gilt. Israelischen Medienberichten zufolge ist sie schon mit der Terrororganisation aneinandergeraten.
"Es gibt eine Linie, die wir definieren. Sie wissen nicht, wo diese Linie verläuft, aber wir wissen es", so der Amerikaner. "Sie denken: 'Oh, ich werde nicht erschossen, weil ich Zivilkleidung trage und keine Waffe habe.' Aber sie irren sich. Deshalb gibt es Scharfschützen."
"Gaza ist wie Sodom"
Was ihn im Krieg antreibt, erklärt er mit einer biblischen Metapher: Die Stadt Gaza sei Sodom. "Und die dort leben wie Amalek." Sodom – die Stadt der Sünde, die Gott durch einen Regen aus Schwefel und Feuer vernichtete. Amalek – das Volk, das Israels Erzfeind war und ausgelöscht werden sollte.

Journalist Tirawi sagt der AZ: "Wir haben buchstäblich aufgezeichnete Mordgeständnisse." Die Schwelle für das Einleiten einer Untersuchung sei erreicht. Nach dem Weltrechtsprinzip könnten diese Ermittlungen die Behörden in Deutschland führen. Doch bislang hat die Bundesanwaltschaft noch kein Verfahren eröffnet.
In der Antwort des Bundesjustizministeriums auf eine Anfrage des bayerischen Linken-Abgeordneten Luke Hoß heißt es: Der Generalbundesanwalt führt einen "Beobachtungsvorgang", sieht aber bisher keine "hinreichend konkreten Anhaltspunkte" für Ermittlungen. Weisungen habe das Ministerium bisher nicht ausgesprochen, heißt es auf AZ-Anfrage.
Menschenrechtsorganisation erstattet Anzeige und fordert Ermittlungen
Dafür muss die Bundesanwaltschaft zurzeit eine mehr als 130 Seiten lange Anzeige von Alexander Schwarz, Völkerrechtler vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), abarbeiten. "In vergleichbaren Fällen haben der Bundesanwaltschaft weitaus weniger Beweise genügt, um Ermittlungen aufzunehmen", sagt er der AZ. Sollte kein Verfahren eröffnet werden, "kostet das den Rechtsstaat Glaubwürdigkeit".
Schwarz geht beim Fall Daniel G. davon aus, dass sich die Taten so weit aufklären lassen, dass ein dringender Tatverdacht besteht. Wenn Ermittlungen aufgenommen werden, müsse deshalb im Anschluss ein Haftbefehl beantragt werden. "Wir gehen davon aus, dass sich Daniel G. als Sniper in Gaza noch bei weiteren Tötungen hervorgetan hat."
Abgeordnete aus dem Bundestag schalten sich ein
Der Abgeordnete Hoß fordert: "Die Kriegsverbrechen in Gaza müssen lückenlos aufgeklärt werden. Deshalb hoffe ich, dass die Ermittlungen auch im Fall Daniel G. zügig vorangetrieben werden." Carmen Wegge, SPD-Abgeordnete aus Starnberg, sagt der AZ: "Ich habe Vertrauen in den Generalbundesanwalt, dass er Ermittlungen aufnehmen wird, wenn sich ein Anfangsverdacht erhärtet."

Nächste Woche, am 8. Oktober, soll der Generalbundesanwalt im Rechtsausschuss zu diesem Fall sprechen. Die Sitzung sei nicht öffentlich, heißt es aus gut informierten Kreisen. Darüber hinaus beschäftigt die Militäreinheit rund um die Männer aus München und dem Vorort von Chicago auch in anderen Ländern die Ermittler.
Behörden in verschiedenen Ländern eingeschaltet
In Belgien, Frankreich, Italien und Südafrika wurden Medienberichten zufolge rechtliche Schritte gegen andere Soldaten eingeleitet. Das Auswärtige Amt kann auf AZ-Nachfrage keine eigenen Erkenntnisse zur Eliteeinheit vorlegen.
Die Familie in München will sich jedenfalls zu den Vorwürfen nicht äußern – genauso wenig wie Israels Generalkonsulat. Und Daniel G. ist nicht zu kontaktieren. "Es ist sehr schwierig", sagt die Mutter vor dem Haus. Dann kommt auch der Vater an die Tür, eine Hand an seinem Telefon, will auf Englisch wissen, woher ihre Adresse bekannt sei, droht, eine "Spezial-Militärpolizei" einzuschalten, und sagt nichts mehr.