"Bayern zeigt uns die A-Karte": Frust nach einem Jahr Cannabis-Teillegalisierung wächst im Freistaat
München – Eine Geruchswolke hat sich in den letzten 365 Tagen über München breitgemacht. Ganz gleich, ob im Englischen Garten, Olympiapark, an der Isar, vor den Clubs und Kneipen dieser Stadt: Der auffällige Duft vom grünen Kraut gehört seit der vor einem Jahr von der Ampel-Koalition beschlossenen Teillegalisierung von Cannabis zum Flair der Stadt.
Doch statt Feierlaune herrscht im Freistaat schlechte Stimmung – und zwar unter Befürwortern und Kritikern der neuen Regelungen zugleich. Gründer von Anbauvereinen, Richter, Ärzte und Politiker sind aufgebracht. Während sich manche nach noch mehr Freiheit sehnen, würden andere liebend gerne die Uhr zurückdrehen und das Rauschmittel wieder unter Prohibition stellen.
In einem Punkt sind sich jedoch beide Seiten einig – wenn auch aus unterschiedlichem Motiv: Die im letzten Jahr verabschiedeten Gesetze greifen im südlichsten Bundesland nicht wie erhofft – und lassen viele Fragen offen.
Gründer von Anbauvereinigung aus München will nicht aufgeben: "Auch wenn uns Bayern die A-Karte zeigt"
Der Münchner Luca Bartosch (30) ist einer der Cannabis-Verfechter und kämpft seit Monaten für den Start seiner Anbauvereinigung. Schon vor einem Jahr wollte er vor den Toren der Landeshauptstadt auf einer Wiese in Allach den Cannabisclub "Greeners" mit der "besten Anbauanlage Deutschlands" eröffnen. Doch daraus wurde bislang nichts.
Wie alle anderen Clubgründer kommt der 30-Jährige hierzulande nicht wirklich weiter. "In Bayern bekommt man einfach keine Genehmigung", sagt Bartosch der AZ. "Der Freistaat blockiert komplett. Aber wir geben nicht auf – auch wenn uns Bayern die A-Karte zeigt."

Formelle Fehler bei der Antragsstellung würden sehr hart "bestraft", Besichtigungstermine der Behörden immer wieder verschoben, nicht vergeben oder abgesagt. Verantwortliche ließen sich viel Zeit bei der Bearbeitung, so Bartosch. Das führe dazu, dass bisher kein einziger Verein eine offizielle Anbaugenehmigung habe.
Bayern im Cannabis-Chaos: "Die Umsetzung der Clubs ist völlig gescheitert"
Außerdem hat der Münchner Probleme, die gültigen Regeln überhaupt umzusetzen. "Dadurch, dass jedes einzelne Mitglied aktiv beim Anbau beteiligt sein muss, ist es ein nahezu unmögliches Projekt geworden, einen Cannabisclub zu gründen", sagt Bartosch. "Du kannst nicht anbauen und 500 fremden Mitgliedern Zugang zu den Räumlichkeiten geben."
Nachdem es bislang nicht vorangeht, ist der Münchner froh, dass er noch kein Geld in eine teure Anbauanlage investiert hat. Die kostet seinen Angaben zufolge mindestens 120.000 Euro – "auch wenn man das Werkzeug aus China bestellt".
"Mit Miete sei man bei monatlichen Betriebskosten zwischen 15.000 und 20.000 Euro." Und selbst, wenn Bartosch eine Genehmigung hätte, entstünden dadurch hohe Mitgliedsbeiträge, die Interessenten wohl abschrecken.
"Die Umsetzung der Cannabisclubs ist damit völlig gescheitert." Seine Vereinigung werde sich deshalb auf Freizeitaktivitäten fokussieren – darunter gemeinsame Ausflüge an der Isar, Fußballspielen, sich über Gras austauschen. "Immerhin haben wir so eine geile Community."
Bayerns Behörden kritisieren Mehraufwand bei der Strafverfolgung
Verantwortlich für die Prüfung seines Clubs ist das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Zehn Angestellte arbeiten dort bisher 28 Anträge ab. Auf AZ-Anfrage teilen die Verantwortlichen mit, dass Bayern großen Wert darauf lege, gesetzliche Vorgaben genau einzuhalten.
Das sei der Grund, warum den 28 Antragsstellern noch keine Erlaubnis erteilt wurde. Die Prüfung sei aufwendig. Vor-Ort-Besichtigungen hätten in einigen Fällen stattgefunden. Es läuft eine Klage eines Betreibers gegen den Freistaat, heißt es.
Wie kompliziert die neuen Regeln zu kontrollieren sind, stellt auch das Innenministerium fest. Grundsätzlich sei es schwieriger geworden, gegen Dealer vorzugehen. Jetzt müsse unter anderem die "Herkunft des Cannabis, Gewicht, eventuell vorhandene Sichtweiten zu Kindergarten/Schulen, Anwesenheit Minderjähriger" geprüft werden, heißt es auf Anfrage der AZ.
Justizminister Georg Eisenreich will Teillegalisierung weiterhin rückgängig machen
Ähnliche Erfahrungen haben die Beamten im Justizministerium gesammelt. Mehr als 41.000 Akten mussten händisch geprüft werden. Bei Dealern, die wegen des Handels mit mehreren Drogen erwischt wurden ("Mischfälle"), müssen neue Verfahren angesetzt werden. Außerdem sei die Tilgung von strafrechtlichen Vermerken im Bundeszentralregister eine "kaum absehbare" Mehrarbeit.

"Die Bundesregierung belastet die Justiz unnötig", sagt Justizminister Georg Eisenreich (CSU) der AZ. Unter anderem deshalb erhebt er wie Parteikollege und Ministerpräsident Markus Söder die Forderung: "Das Cannabisgesetz gehört abgeschafft." In CDU-Kreisen sieht man das ähnlich – jedoch ohne Priorität.
Jugendrichter Andreas Müller rechnet mit Staatsregierung unter Markus Söder ab
Pläne, die Teillegalisierung rückgängig zu machen, lehnt der Jugendrichter Andreas Müller aus Brandenburg ab. "Ich kann diesen Unverstand von Söder nicht mehr hören", sagt Müller der AZ. Dabei wird er deutlich: "Söder müsste sich mittlerweile selbst doof finden. Doch er haut sich lieber auf seine Lederhose und denkt darüber nach, wie er das nächste Mal die Bevölkerung täuschen kann."
Müller tritt in der Öffentlichkeit aktivistisch für die Teillegalisierung von Cannabis auf. Gerichte bestätigten in erster und zweiter Instanz seine Unbefangenheit. Sein Fazit: Die Justiz ist nicht zusammengebrochen. "Es gibt so viele Fälle, die Staatsanwälte, die Polizei jetzt gar nicht mehr verfolgen müssen. Auch ich konnte selber so viele Verfahren einstellen. Man muss das alles im Verhältnis zum früheren Aufwand sehen."

Trotzdem wolle Bayerns Staatsregierung "fast pathologisch" Teile der Gesellschaft ohne wissenschaftliche Faktengrundlage "verfolgen". Müller hofft, dass dieser "Kampf" in den Koalitionsverhandlungen bald endgültig ein Ende hat.
Die Profiteure der Teillegalisierung: Massiver Importanstieg bei medizinischem Cannabis
Wirkliche Gewinner der neuen Gesetzeslage sind im Freistaat bislang nur Anbieter von Telemedizinportalen wie "Dr. Ansay" oder "Bloomwell" im Internet. Indem Nutzer einen Online-Fragebogen richtig ausfüllen, kommen sie über Ärzte an eine Privatverordnung für starke Cannabisblüten und Extrakte – ohne persönlich mit einem Arzt gesprochen zu haben.
Möglich ist das, weil Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel gelistet ist. Inzwischen darf es unter anderem wegen Migräne oder Schlafstörung verschrieben werden. Mediziner, die mit derartigen Plattformen zusammenarbeiten, sitzen zum Teil im Ausland.
Sie stellen Verordnungen für potenzhaltige Cannabisblüten und große Mengen aus. Wirkstoffgehalt und die Dosierungen liegen zum Teil weit über der gängigen Praxis. Der Import von medizinischem Cannabis hat sich dadurch laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2024 mehr als verdoppelt (+ 39,5 Tonnen).

Sascha Mielcarek ist Geschäftsführer der "Canify AG". Die am Ammersee ansässige Firma betreibt ein Telemedizinportal. Im Gegensatz zu unseriösen Anbietern müssen Patienten auf seiner Seite umfangreichere Fragebögen ausfüllen.
"Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz zu streichen, war eine lange notwendige Reform", sagt Mielcarek der AZ. Aufwendige Arztbesuche vor Ort fallen nun zum Teil weg. Das käme Patienten zugute. "Ich wünsche mir ein bisschen weniger Aufregung in dieser Debatte."
"Das ist aktuell eine Katastrophe": Ärztin aus München plädiert für Verschärfung der Regeln
Verärgert ist die Münchner Ärztin Teresa Thalmaier, die in einer Praxis sorgfältig Cannabismedikationen mit ihren Patienten bespricht. "Das hätte so gut werden können", sagt sie der AZ. "Insgesamt war es aber mit Blick auf medizinisches Cannabis ein schreckliches Jahr."
Es seien starke Sorten auf den Markt gekommen, die für Einsteiger ungeeignet sind. Ein genauer Prüfprozess bleibe auf vielen Telemedizinplattformen aus – deshalb gelangen auch Unberechtigte an die Medikamente.
Bestimmte Sorten für schwere Schmerzpatienten sind deshalb über Monate ausverkauft. Thalmaier fordert aus diesem Grund: "Telemedizin soll nicht abgeschafft werden, aber es sollte wieder deutlich strenger werden. Das ist aktuell eine Katastrophe."
Bayern will Vorschlag in Gesundheitsministerkonferenz einbringen
Das Gesundheitsministerium in Bayern hat erste Verschärfungen vorgeschlagen und will eine Empfehlung in die Gesundheitsministerkonferenz einbringen. Medizinisches Cannabis soll nur nach persönlicher Beratung verschrieben werden.
"Hilfsweise könnte die Anwendung von Medizinalcannabis zurück ins Betäubungsmittelgesetz überführt werden", bestätigt ein Sprecher der AZ.
Die Diskussion um das Rauschmittel bleibt damit angespannt. Obwohl eine vollständige Rücknahme der neuen Regelungen inzwischen als unwahrscheinlich gilt, ist klar: Der Streit um das grüne Kraut hat erst begonnen.