Zehn Jahre "Wir schaffen das": TV-Doku zieht spannendes Fazit

Audio von Carbonatix
Im Sommer 2015 kamen Tausende Geflüchtete nach Deutschland und wurden vielerorts mit offenen Armen empfangen. Aus der anfänglichen Euphorie entwickelte sich jedoch bald eine Zerreißprobe für Staat und Gesellschaft. Am 31. August 2015 prägte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (71) den historischen Satz: "Wir schaffen das." Zehn Jahre später zieht ZDF-Journalistin Sarah Tacke in der "Am Puls"-Dokumentation "Flucht und Krise: 10 Jahre 'Wir schaffen das'" Bilanz. Dafür wertete sie Statistiken aus und reiste monatelang quer durchs Land, um Geflüchtete zu treffen, Helfer zu interviewen und an konfliktreichen Orten zu recherchieren. Im Gespräch mit spot on news erzählt Tacke, was sie überrascht hat, wo Integration gelungen ist - und warum sie glaubt, dass ehrliche Debatten heute wichtiger sind denn je. Der Film wird am 14. August um 22:15 Uhr im ZDF gezeigt und ist in der Mediathek verfügbar.
Warum wollten Sie diesen Film machen?
Sarah Tacke: Die Frage "Haben wir es geschafft?" stand für mich ganz am Anfang. Natürlich hat jeder ein Bauchgefühl dazu, aber ich wollte es genau wissen. Deshalb war es mein Wunsch, diesen Film zu machen. Ich wollte verstehen, wie es in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich gelaufen ist, wie sich durch die Entscheidung, die Grenzen offen zu halten, unser Land verändert hat und ich wollte am Ende eine fundierte Antwort geben können.
Wie haben Sie sich der Antwort genähert?
Tacke: Wir sind in drei Schritten vorgegangen. Zuerst haben wir uns auf Zahlen, Daten und Fakten konzentriert und uns offizielle Statistiken angeschaut - zum Beispiel: Wie viele Menschen kamen seit 2015? Wie ist die Geschlechterverteilung? Wo leben sie? Wer arbeitet, wer bezieht Bürgergeld, wer ist in der Kriminalstatistik erfasst? ... Das war gar nicht so einfach, Zahlen zu finden und sie zu verstehen.
Neben diesen objektiven Daten haben wir auch Erfahrungsberichte gesammelt. Dazu habe ich über das ZDF und soziale Medien einen Aufruf gestartet: "Bitte schreiben Sie mir nicht Ihre Meinung, sondern was Sie selbst erlebt haben - positiv wie negativ." Daraufhin habe ich über tausend Zuschriften bekommen. Das ist keine repräsentative Umfrage, aber es ergibt ein eindrucksvolles Stimmungs- und vor allem Erlebnisbild.
Dann kam die Vor-Ort-Recherche: Ich bin durchs ganze Land gereist, habe Brennpunkte besucht, Menschen getroffen und lange mit ihnen gesprochen. Das ist für mich der Kern der "Am Puls"-Reihe: Raus aus dem Büro, mitten hinein ins echte Leben.
Das klingt nach viel Aufwand. Ist das innerhalb der Reihe "Am Puls" üblich?
Tacke: Die "Am Puls"-Filme fordern tatsächlich einen hohen Einsatz - das sagen alle Kollegen. Wir arbeiten immer im Team: Co-Autoren, Producer, Redakteure alle gehen bei so einem Film mit vollem Engagement rein - ein "Am Puls" kann nur so gut sein, wie das Team, das ihn macht. Und ich war in jede Recherche und jeden Dreh persönlich involviert. "Am Puls" taucht sehr tief ein in ein Thema - mit sehr viel Zeit und Präsenz vor Ort.
Und was ist Ihre Antwort: Haben wir es geschafft?
Tacke: Das hängt davon ab, was wir schaffen wollten. Wenn wir es schaffen wollten, Millionen Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu helfen, sie aufzunehmen, unterzubringen und zu versorgen - dann haben wir es geschafft. Das ist eine enorme organisatorische und finanzielle Leistung. Aber wenn wir es schaffen wollten, diese Menschen vollständig zu integrieren - ohne große soziale Spannungen, ohne deutliche Belastungen der Sozial- und Krankensysteme und ohne Anstieg in bestimmten Kriminalitätsbereichen - dann haben wir es nicht geschafft.
Was waren für Sie persönlich die überraschendsten Begegnungen?
Tacke: Es gibt drei Begegnungen, die mich besonders beeindruckt haben. Niro Degen aus Franken: Er kam 2015 aus Syrien, spricht heute nicht nur Deutsch, sondern sogar perfektes Fränkisch, hat sein Lehramtsexamen abgelegt, den Namen seiner Frau angenommen und ist komplett integriert - und doch hat er Rassismus erlebt, zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Niro hat mich nachhaltig beeindruckt und mir gezeigt wie intensiv man innerhalb von nur zehn Jahren in Deutschland ankommen kann.
Dann habe ich Haytham Allafi kennengelernt, einen syrischen Zahntechniker, der auch 2015 gekommen ist, weil seine beiden behinderten Töchter in Deutschland besser versorgt werden können. Er betreibt einen Klamottenladen in Salzgitter, in dem es vom Kopftuch bis zum kurzen Glitzerkleid alles gibt. Und je nachdem, welchen Maßstab man anlegt, ist auch er angekommen: Er versorgt seine Familie selber, ist im Arbeitsmarkt integriert und spricht ganz gut Deutsch. Vor diesem Hintergrund ist ihm echt was gelungen. Aber er sagt auch frei heraus, dass für ihn die arabische Kultur die bessere sei und er sich in Salzgitter so wohl fühle, weil er dort leben kann wie in Syrien. Seine Frau trägt Kopftuch, sie sprechen Arabisch und gehen in die Moschee. Haytham sagt, sie würden ihr syrisches Leben in Salzgitter weiterleben, aber die Krankenversorgung, die Sicherheit und das Sozialsystem seien besser, deshalb sei er da. Abends habe ich noch mit ihm und seinen syrischen Freunden Karten gespielt. Alle arbeiten, nicht jeder spricht so gut Deutsch wie er, aber es war sehr nett - sie haben ihre Tür aufgemacht. Es ist eine Parallelgesellschaft, aber von Menschen, die sich in den Arbeitsmarkt integriert haben und ein syrisches Leben in Salzgitter führen. Was Haytham mir gezeigt hat, ist, dass die Frage, wann ist jemand integriert, was erwarten wir von Zugewanderten nicht immer klar zu beantworten ist. Denn er hat für sich und seine Familie seit 2015 in Deutschland sehr viel erreicht. Und trotzdem ist es wohl auch nicht das, was die Mehrheit der Zuschauer, die mir geschrieben haben, bei dem Satz "Wir schaffen das" erwartet haben.
Und dann war ich in Regensburg am Bahnhof, weil dieser Ort als gefährdetes Objekt gilt. Es darf anlasslos präventiv kontrolliert werden, weil die Kriminalität um 165 Prozent gestiegen ist, vor allem durch ausländische Tatverdächtige und Täter. Unter anderem habe ich mit einem jungen Iraker gesprochen, der auch 2015 gekommen ist, ähnliches Alter wie Niro. Der Mann in Regensburg saß bereits viereinhalb Jahre im Gefängnis - die Liste der Straftaten ist lang - und hatte trotzdem Drogen dabei. Er hatte die gleichen Möglichkeiten wie Niro und Haytham, hat es aber, wenn man so will, nicht geschafft. Diese drei Beispiele zeigen, wie entscheidend persönlicher Wille, Vorgeschichte und Umfeld sind.
Sind Sie bei der Recherche oder beim Drehen zu diesem polarisierenden Thema auf Widerstand oder Vorbehalte gestoßen?
Tacke: Im Gegenteil - mir haben viele Tausend Menschen geschrieben und mich eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen. Und in unserem Autoren-Team für diesen Film hat Hussam Al Zaher mitgearbeitet. Er ist selbst 2015 aus Syrien eingewandert und arbeitet heute als Journalist in Hamburg. Hussam hat nicht nur seine Perspektive, seine Erfahrungen und Sprache mitgebracht, sondern auch Türen für uns in Syrische Communitys geöffnet, die wir allein nicht so leicht öffnen können. Vor allem auch durch Hussams Perspektive, Erfahrungen und Zugänge konnten wir in diesem Film tief und facettenreich in unterschiedlichste Lebenswelten eintauchen.
Spielt die "Willkommenskultur" heute noch eine Rolle?
Tacke: 2015/2016 haben unglaublich viele Menschen in Deutschland ehrenamtlich geholfen - Sprachkurse organisiert, Geflüchtete begleitet, Wohnungen eingerichtet. Das hat mich auch rückblickend nochmal sehr beeindruckt. Heute ist diese Bereitschaft oft noch da, aber vielfach auch von Enttäuschung überlagert. Viele, die mir geschrieben haben, betonten vorab "Ich bin nicht rechts", wenn sie von gescheiterten Integrationsversuchen erzählten. Wir müssen wieder offener über Probleme, Scheitern, Nicht-Gelingen sprechen können - ohne sofort in eine politische Ecke gestellt zu werden. Das ist kein Rassismus, sondern das Gegenteil. Denn es kommt ja von Menschen, die sich engagiert haben und wollen, dass es gelingt.
Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus dem Filmprojekt?
Tacke: Integration ist unfassbar anstrengend - für beide Seiten. Für die, die ankommen, bedeutet es Sprache lernen, Bürokratie bewältigen, sich in eine fremde Gesellschaft einfinden. Für die Aufnahmegesellschaft bedeutet es, Millionen Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis einzubinden. Es funktioniert nur, wenn beide Seiten sich anstrengen und klare Regeln gelten. Erwartungen müssen benannt werden - und es muss auch Konsequenzen geben, wenn sie nicht erfüllt werden. Willkommen allein reicht nicht, es braucht Strukturen und eine Fortsetzung des Engagements.
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