AZ-Kritik zum Göttingen-Tatort: National feminin - Männer als Statisten

Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anais Schmitz (Florence Kasumba) ermitteln im aktuellen "Tatort" aus Göttingen im Studentenmilieu: Eine rechte Bloggerin wird in den Tod gehetzt. Die AZ-Kritik zum Krimi.
Johanna Schmeller |
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"A schöne Leich": Im Göttinger Stadtwald wird eine ermordete junge Frau gefunden. Die Identität der Toten setzt das Team um Anais Schmitz (Florence Kasumba, l.) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler, r.) unter großen Druck.
NDR/Frizzi Kurkhaus "A schöne Leich": Im Göttinger Stadtwald wird eine ermordete junge Frau gefunden. Die Identität der Toten setzt das Team um Anais Schmitz (Florence Kasumba, l.) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler, r.) unter großen Druck.

Achtung, Spoiler! Diese TV-Kritik gibt mehr oder weniger konkrete Hinweise auf die Handlung des Göttingen-"Tatorts: National feminin". Wenn Sie nichts verraten bekommen wollen, warten Sie mit der Lektüre des Textes, bis Sie den Film gesehen haben (Das Erste, 17.04.2022, 20.15 - 21.45 Uhr und in der ARD-Mediathek).


Grad lief's noch gut für Marie Jäger (Emilia Schüle). Jeder, wirklich jeder will etwas von der 23-jährigen Jurastudentin. Abschreiben. Ins Bett. Freunde bleiben. Freunde werden.

Der Zuschauer will vor allem wissen, warum sie sterben muss, wie sie sterben muss: Marie wird durch den Wald gehetzt, ihre Kehle von links nach rechts mit einem Einhandmesser aufgeschlitzt, Zeugen hören ihren Schrei, "vielleicht war's eine Frau, vielleicht eine Katze". Die Mordsequenz erlebt er in einer wilden subjektiven Kamerafahrt, die an "Blair Witch Project" erinnert. Schon steckt er mitten in Maries Geschichte.

Autor Florian Oeller verhandelt gleich zwei bleischwere gesellschaftliche Themen in seinem Sonntagabendkrimi: die neue Rechte und den modernen Feminismus.

Influencerin mit AfD-Tonfall

Denn Marie ist eine Influencerin der fiktiven, an die Identitären angelehnten "Jungen Bewegung". Sie lebt in einer  burschenschaftsähnlichen Haus-WG und dreht gesinnungsschwangere Selftapes für den Blog "National feminin". Durch Marie und ihre Professorin, die künftige Bundesverfassungsrichterin Sophie Behrens (Jenny Schily), wird illustriert, dass elaborierte Wortbeiträge mindestens so menschenverachtend sein können wie die platten Parolen skandierender Stiernacken in Springerstiefeln.

"A schöne Leich": Im Göttinger Stadtwald wird eine ermordete junge Frau gefunden. Die Identität der Toten setzt das Team um Anais Schmitz (Florence Kasumba, l.) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler, r.) unter großen Druck.
"A schöne Leich": Im Göttinger Stadtwald wird eine ermordete junge Frau gefunden. Die Identität der Toten setzt das Team um Anais Schmitz (Florence Kasumba, l.) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler, r.) unter großen Druck. © NDR/Frizzi Kurkhaus

Ihre Tonlage klingt nach A, f und D: Paragraph 218 widerspreche dem Grundrecht auf Leben. Frauen seien überfordert von gesellschaftlichen Erwartungen, die sie in die Rollenvielfalt zwängen. Man müsse ihnen eine Wahl bieten, zuhause "Männern den Rücken zu stärken". Das Ermittlerduo Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anais Schmitz (Florence Kasumba) schüttelt nur die Köpfe, keep calm, weitermachen.

Der Plot ist emotional dicht. Nahezu jede Beziehung eines Frauenlebens wird durchgespielt: Konkurrenz, Verbundenheit, Rivalität, Überforderung als Mutter, Verständnis als Geliebte.

Männer als Randfiguren im Göttinger "Tatort"

Für Männer bleibt da kaum dramatisches Feingefühl über: Da wären ein egomaner Professor (Stefan Bissmeier), ein täppischer Hilfskommissar, ein lakonischer Abteilungsleiter und ein linker Farbbeutelwerfer - allesamt Stützfiguren, um Theaternebel in die Ermittlungen zu blasen.

Dass die Professorin und ihre Anwalts-Ehefrau von einem moralflexiblen Generalstaatsanwalt protegiert werden: vorhersehbar. Dass es unter Maries Mitbewohnern eigenschaftslose Flachpfeifen mit rassistischen Motto-Shirts und, leider, Sprechrolle gibt: geschenkt. Dass WG-Obernazi Felix Raue (Samuel Schneider) eine Verlobte hat, die so blond wie bieder wie schwanger ist, und dass linke Studenten Hoodies und die Haare lang tragen: klischeehaft.

Man verzeiht es. "National feminin" zeigt auf intelligente Art, wie Extremisten soziale Medien nutzen, um eine neue Gruppe zu umwerben: junge Frauen. Das gelingt eindrucksvoll. Und die Verbindung von wackeligen Handy-Videos, langsamen, berührenden Einstellungen und zackig einfließenden Tweets macht diesen Tatort visuell fabelhaft.

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3 Kommentare
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  • Der wahre tscharlie am 18.04.2022 17:06 Uhr / Bewertung:

    Ein sehr guter Tatort, recht nah am wirklichen Leben, und wie auch richtig kommentiert, etwas klischeehaft. Die deutsche rechte Frau ist heute nicht immer blond.
    Aber alleine die Hastags, wie im richtigen Leben. Kann man ständig in den sozialen Netzwerken lesen. Auch das Bannerausrollen hat mich an die frühen Jahre und Aktionen der Identitären erinnert.
    Und das Ende, der Täter, das Motiv?
    Da kann man nun folgern, dass die neuen Rechten weiterhin eine Macho-Gemeinschaft ist, die von Männern dominiert wird, in der Frauen nur das Mittel zum Zweck sind. Und auch sie sind nur Menschen, die von Eifersucht geplagt sind und sich einfach nur ein bischen nach Liebe sehnen.

  • Analena am 18.04.2022 07:45 Uhr / Bewertung:

    Eine moralische Belehrung. Richtig und falsch.
    Warum muss so etwas immer in einen Tatort verpackt werden.

  • Giesing am 17.04.2022 21:59 Uhr / Bewertung:

    Ein wirklich guter Tatort. Leider mit etwas konstruiertem Ende. Der Täter musste halt aus einer Richtung kommen…

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