AZ-Kritik zum Berlin-"Tatort: Die Kalten und die Toten" - Mehr Diversität wagen
Achtung, Spoiler! Diese TV-Kritik gibt mehr oder weniger konkrete Hinweise auf die Handlung des Berlin-"Tatort: Die Kalten und die Toten". Wenn Sie nichts verraten bekommen wollen, warten Sie mit der Lektüre des Textes, bis Sie den Film gesehen haben (Das Erste, 14.11.2021, 20.15 - 21.45 Uhr und in der ARD-Mediathek).
Mehr Diversität wagen: Bei ihrem vorletzten Einsatz hat Nina Rubin (jüdischer Hintergrund) mit Robert Karow (am "-ow" als einer der wenigen autochtonen Berlin-Brandenburger erkennbar) jetzt noch einen klugen, selbstbewussten, jüngeren Kollegen mit Migrationshintergrund ins Team bekommen: den "physisch Herausgeforderten", wie sich Malik Aslan (Tan Caglar) selbstironisch politisch-korrekt nennt, weil er im Rollstuhl sitzt. Außerdem ist er aus Bielefeld…
Thematisch umkreist der neue Berlin-"Tatort" aber zwei andere Themen – nicht gerade neue, aber radikal und packend durchgespielte: wie dysfunktionale Familienstrukturen, hier auch noch sexuell völlig aufgelöst mit Fremdgehen und Swingerclub. Oder Bisexualität, Prostitution und Doppelleben einer studierenden Kleinbürgertochter, die anfangs ermordet wurde. Und Mutterliebe, die die Wahrheit über ihren eiskalt narzisstischen Sohn (Vito Sack) nicht sehen will. Überhaupt ist dieser "Tatort" in Augenblicken sexuell wahrhaftig explizit.
Wie weit darf ein Ermittler gehen, um einen Verdächtigen zu überführen?
Vor allem aber wird in "Die Kalten und die Toten" (Buch: Markus Busch) eine interessante "Tatort"-Frage gestellt: Was darf man als Ermittler tun, um einen Verdächtigen, dem nichts mehr nachzuweisen ist, doch noch zu überführen? Illegale "Psychospielchen" unterstellt Karow (Mark Waschke) da seiner Kollegin Rubin (Meret Becker).
Und die sind hier tödlich. So lädt die Kommissarin selbst brutale Schuld auf sich, wenn ihr pseudo-ermittelnder, fast sadistischer Psychoterror ("Wussten Sie, dass sich ihre Tochter nicht nur prostituiert hat, sondern auch noch bi war?") auch noch zum Selbstmord des Vaters der ermordeten Studentin führt.
Dass man nach sowas nicht mehr lange weiter ermitteln wird, ist psychisch auch klar. Überhaupt spielt Meret Becker diese Nina Rubin extrem aufgerieben: zu viel Blut, zu viele Abgründe in all den Jahren - und hier vielleicht auch, weil sich in einer in den Fall verwickelten Polizeikollegin (Jule Böwe), die ihren schwerkriminellen Taugenichts-Schönlingsohn wie eine Löwenmutter schützt, eigene familiäre Versäumnisse spiegeln?
Überhaupt kommt der Polizeiberuf hier nicht besonders gut weg. Denn nach weiteren Demütigungen (auch durch Rubin, die Tatsachen über das Sexleben des Ehemannes als Kampfmittel einsetzt) verliert auch die besagte Polizistin die Nerven. Diese Heldin des Alltags, die alles zusammenzuhalten versucht, kündigt den Polizeijob und begeht einen Selbstmordversuch.
Rubin verrennt sich im Aufklärungswahn
Nach alledem liegt wirklich eine rauhgereifte Endzeitstimmung über dem frühwinterlichen Berliner "Tatort" (Regie: Torsten C. Fischer). Selbst Karows Angebot an seine Kollegin Rubin, man könne es ja noch einmal im Bett miteinander probieren, schafft keine Wärme, sondern verhallt in nihilistischer Atmosphäre. Was hatte Karo vorangestellt: "Jetzt haben wir doch schon soviel kaputt gemacht", da könnte man ja doch mal wieder…
Mit grandios spielendem Gesamtensemble, viel subtiler, aber klaren und klugen Psychologisierung ist hier ein großer "Tatort" gelungen, der hinter immer noch formal aufrecht erhaltenen Rest-Bürgerlichkeitsfassaden schaut. Aber schonungslose Aufklärung und Wahrheit kann eben auch zu brutalen Kollateralschäden führen. Und ob nach radikal aufdeckender Zerstörung wirklich Besseres entstehen kann? Rubin jedenfalls hat sich im Aufklärungswahn verrannt und bleibt selbst als zerrüttete Figur zurück.
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