Wickmayer: Tennis als Therapie
NEW YORK - Die außergewöhnliche Karriere der Yanina Wickmayer: Alles begann mit dem Krebstod ihrer Mutter.
Als ihre Mutter vor zehn Jahren nach langer Leidenszeit an Krebs starb, wollte Yanina Wickmayer nur noch weg aus Belgien, irgendwo hin, „weit weg“ von Liers, weit weg von einem Ort, den sie nur noch mit Schmerz, Tränen und Trauer verband. Neun Jahre alt war sie damals, ein Kind, das ihrem Alter weit voraus war. Ein entschlossenes Kind, das auf einmal einen Plan hatte: Tennis spielen in Amerika, eine große Karriere schaffen, eine Karriere wie vielleicht ihr Idol Kim Clijsters. Sie begann auf eigene Faust im Internet zu surfen, fand eine Akademie in Saddlebrook (Florida), die „toll aussah“, und drängte ihren Vater zum Umzug. „Ich kann mich noch genau erinnern an den Tag, an dem ich in ihr Kinderzimmer kam und die Etiketten sah“, sagte Marc Wickmayer am Mittwoch bei den US Open in New York, „die Etiketten auf allen Möbeln, die Yanina für den Umzug vorgesehen hatte. Da wusste ich, wie ernst ihr die Sache war.“
Ein Jahrzehnt nach dem Aufbruch ins Ungewisse, nach dem Aufbruch in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht sprachen, standen Yanina Wickmayer und ihr Vater am Mittwoch im Fokus der ganzen Tenniswelt. Hier, in Amerika, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier, in ihrer Wahlheimat auf Zeit, von 1999 bis 2001. Erst erzählte Yanina „an diesem stolzesten Tag meines Lebens“ den Heerscharen von Reportern, wie sie eiskalt ihre Chance zum Halbfinaleinzug bei den US Open ausgenutzt hatte, wie sie im mächtigen Arthur Ashe-Stadion die Ukrainerin Katarina Bondarenko 7:5 und 6:4 besiegt hatte, wie sie nun auch gegen die Dänin Carolin Wozniacki gewinnen wollte (6:2, 6:2 gegen Wunderkind Melanie Oudin).
"Yanina ist wie ein Geschenk des Himmels"
Und dann erzählte Mark Wickmayer als Gast im großen Interviewraum über seine außergewöhnliche Tochter, „ein wunderbares Mädchen, ohne dass ich nie über den Tod meiner Frau hinweggekommen wäre“: „Yanina ist wie ein Geschenk des Himmels. Ihre kranke Mutter hat immer zu ihr gesagt: Du musst kämpfen im Leben, du kriegst nichts geschenkt. Und das hat sie vor allem dann mir gezeigt.“
Alles hatte Wickmayer 1999 aufgegeben, um mit seinem Kind ins fremde Florida umzusiedeln: Er verkaufte seine Firma für Swimmingpool-Installationen, in der er 30 Mitarbeiter beschäftigte. Er verkaufte sein Haus, seine Autos, seinen ganzen Besitz, er verabschiedete sich von allen Freunden, aber nicht etwa, um seine Tochter in eine Tenniskarriere zu pushen, sondern um ihr das Leben lebenswerter zu machen.
„Er wollte mich einfach nur glücklich sehen und hat dafür sogar seine eigenen Träume zurückgesteckt“, sagt Yanina Wickmayer, „es ging ihm nur um mich. Dafür bin ich ihm jeden Tag meines Lebens dankbar.“ Denn dass ihr überhaupt eine Tenniskarriere gelingen würde, war 1999 noch überhaupt nicht absehbar. Als Vater und Tochter ins Flugzeug stiegen, spielte Yanina gerade einmal sieben Monate Tennis. „Sie war gut, hatte Talent, aber nichts deutete auf eine internationale Laufbahn hin“, sagt Rudi Kuyls, der Sprecher der Familie, „diese Geschichte ist wie ein Wunder. Das passiert so nur einmal alle hundert Jahre.“
Ihr Stiefbruder starb bei einem Unfall
Dass sie sich in der berühmten TennisAcademy in Saddlebrook durchsetzte, schnelle Fortschritte machte und die meisten Mädchen abhing, selbst die viel älteren, schreibt die heute 19-jährige Teenagerin auch ihrem besonderen Lebenslauf zu: „Ich musste einfach früher als andere erwachsen werden, vieles selbst organisieren“, sagt sie, „erst war Tennis nur eine Therapie für mich. Dann ist es mein Leben geworden. Etwas, wofür ich alles gebe. Ohne Kompromisse.“ Er kenne keine Spielerin, „die so fürs Tennis lebt wie Yanina“, sagt ihr Manager Olivier Van Lindonk, „sie ist so disziplinert und ehrgeizig. Sie geht jeden Abend um neun Uhr ins Bett, um gut für den nächsten Tag vorbereitet zu sein.“
2001 waren Marc und Yanina Wickmayer wieder nach Belgien zurückgekehrt, die Zeit, in der sie beide eine Luftveränderung brauchten, war vorüber. Beim flämischen Verband stießen sie zunächst auf taube Ohren, als sie um Unterstützung baten. Doch das Vater-Tochter-Gespann ließ sich nicht entmutigen, organisierte selbst finanzielle Unterstützung – und bald zeigte sich, welches Potenzial in dem athletischen, 182 Zentimeter großen Mädchen steckte. Schnell wurde auch Marketinggigant IMG auf Wickmayer aufmerksam, nahm sie unter Vertrag, besorgte Sponsoren, Trainer und namhafte Übungspartnerinnen. Selbst ein weiterer tragischer Augenblick warf die Wickmayers nicht aus der Bahn – der Unfalltod von David, dem Sohn aus erster Ehe, dem Stiefbruder von Yanina. „Manchmal wünschte ich mir, ich könnte einfach ein normaler Teenager sein. Aber nach alles, was in meinem Leben schon passiert ist, geht das nicht“, sagte Wickmayer am Mittwoch, „ich bin älter im Kopf als 19.“
In New York hat sie fast soviel verdient wie vorher in der ganzen Karriere
Belgien, das kleine Land, das sich im Tennis so erfolgreich gegen die Großen wehrt wie Asterix im Comic gegen die Römer, hat in jedem Fall die nächste bemerkenswerte Spielerin in die Spitze des Wanderzirkus lanciert. „Es ist schon verrückt, dass wir so erfolgreich sind“, sagt Wickmayer, die mit ihrem Vater inzwischen in Deurne lebt, nur etwas 40 Kilometer von Aachen entfernt.
In New York, bei ihrem internationalen Durchbruch, hat sie mit 350 000 Dollar auf einen Schlag schon so viel verdient wie fast in ihrer ganzen Karriere zuvor (400 000 Dollar). Über die zweite Hauptrunde eines Grand Slams schaffte sie es bisher nie hinaus, nun grüßt sie als Mitglied im Klub der letzten Vier. Ans mögliche Endspiel gegen Kim Clijsters, ihr Vorbild, ihre Leitfigur, ihre Mentorin, will sie noch gar nicht denken, „das wäre unprofessionell.“ Erst mal will sie im Halbfinale mit gewohnter Präzision und Wucht ans Werk gehen, „jeder Schlag mit voller Energie.“ Zuzutrauen sei seiner Tochter alles, sagt Marc Wickmayer, „das hat sie mir über all die Jahre zur Genüge bewiesen: „Am Ende ihrer Möglichkeiten ist sie noch längst nicht. Hier nicht. Und auch nirgendwo anders.“
Jörg Allmeroth
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