Der Haiti-Löwe: „Ich lebe noch“
Der frühere 1860-Torwart Henri Francillon amüsiert sich über Meldungen, er sei seit elf Jahren tot. Doch er trauert um die Verwandten in seiner Heimat Haiti – und denkt noch viel an seine Zeit in Giesing.
MÜNCHEN Was solle er sein? Tot? Umgekommen vor elf Jahren? Zumindest da kann Henri Francillon herzlich lachen, als ihm die AZ am Telefon von einem Zeitungsbericht vom Mittwoch erzählt, wonach er 1999 bei Unruhen auf Haiti erschossen worden sei. „Nein, ich lebe noch“, sagt er, „mir geht es sehr gut.“ Wie die Falschmeldung zustande kam, kann er sich auch nicht erklären. Er hat ja im Moment auch ganz andere Sorgen.
Das Leid in seiner Heimat die vielen Toten, dann noch das erneute Erdbeben, das Haiti am Mittwoch erschütterte. „Ich hoffe“, sagt er, „dass nicht noch mehr Verwandte gestorben sind.“ Denn fünf Angehörige hat Francillon schon beim ersten Beben verloren.
Traurige Tage für den 63-Jährigen. Für das Fußball-Idol Haitis, für die alte Löwen-Legende. Die bewegte Geschichte des Henri Francillon, dem Ex-Torwart des TSV 1860.
1974 kam er das erste Mal nach München, mit Haitis Nationalmannschaft zur WM. Alle drei Vorrundenpartien spielten sie im Olympiastadion. Sie verloren alle drei, aber sie gewannen die Herzen der Münchner. Gerade beim Auftakt, 1:0 lag Haiti gegen Italien vorn, den Vize-Weltmeister, und Francillon hielt wie ein Irrer. Den „Panther“ nannten sie ihn danach in der Heimat, weil er sich alle Schüsse krallte, und die Stars der Azzurri an ihm verzweifelten, Facchetti, Rivera, Capello, Mazzola. Am Ende freilich war der Widerstand der tapferen Außenseiter gebrochen. 1:3 hieß es am Ende, es folgten ein 0:7 gegen Polen, ein 1:4 gegen Argentinien.
Haiti flog heim, aber Francillon kam bald wieder, weil 1860-Trainer Max Merkel bei der WM so angetan war, dass er ihn verpflichtete. Doch viel spielte Francillon dann doch nicht, fünf Spiele in der 2. Liga, sonst stand Bernd Hartmann im Tor, und nach einem Jahr war Francillon dann wieder in Haiti.
Und dann? Dann gingen das abenteuerliche Leben erst richtig los. Senator nach dem Karriere-Ende, fünf Jahre im Parlament, aber dann begannen die Unruhen. Mitte der Achtziger Jahre, zum Ende der Herrschaft von Diktator Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier. „Eines Tages geriet ich in einen Kugelhagel“, sagt Francillon, „da wusste ich, wir müssen raus aus dem Land.“ Mit Frau Chantal und den vier Kindern Henry jr. (damals 14), Rachel (11), Patrick (8) und Alex (4) flohen sie in die USA, Anfang 1986, sie ließen alles zurück, beantragten in Florida Asyl und bauten sich langsam eine neue Existenz auf.
Francillon arbeitete als Lieferfahrer, dann, nach sechs Jahren, waren sie endlich aus dem Gröbsten heraus. Ein kleines Haus hatten sie auch gebaut, doch dann kam Andrew, im August 1992, Hurricane Andrew. Und vom Haus blieb nichts mehr übrig.
Die Familie zog weiter nach Norden, nach Massachusetts, sie hatten nichts mehr, nur den Willen zu überleben. Im Kongresszentrum von Boston arbeitete Francillon als Putzmann, dann kam er wieder zum Fußball, trainierte Junioren-Mannschaften und das Uni-Team an Bostons Emerson College.
Nun ist er Rentner und fünffacher Opa und lebt mit seiner Chantal in Norwood, einer Kleinstadt im Südosten Bostons. Seit 24 Jahren war er nicht mehr in Haiti, aber er sieht dauernd die Bilder im Fernsehen und hört die Neuigkeiten von seiner Schwester aus Haiti am Telefon.
Meistens sind es schlechte Neuigkeiten.
Vom Tod von fünf Verwandten durch das Beben hat er bereits gehört, einen Neffen, einen Cousin, dessen drei Kinder. Eine Cousine hat beide Beine verloren, sechs weitere Angehörige sind obdachlos.
Und dann, auf einmal, ganz plötzlich, will er dann doch nicht mehr über die Not auf Haiti sprechen, und so fragt er mittendrin, ganz unvermittelt: „Wie geht es eigentlich 1860?“ Naja, mittelmäßig, Zweite Liga, Durchschnitt, mehr so graue Maus.
Ja, das habe er sich schon gedacht, sagt er, weil er manchmal die Bundesliga im Fernsehen sieht, aber eben nur die erste Liga, und da habe er 1860 in der Tabelle nicht mehr gesehen, und zwar schon sehr sehr lange nicht mehr.
Dass es eine schöne Zeit gewesen sei, wie er in Solln gelebt und in Giesing gespielt habe, sagt er noch, und wie sehr ihn das Leben in Massachusetts an München erinnere: „Hier ist das Klima ähnlich“, sagt Francillon. „ich liebe den Wechsel der vier Jahreszeiten, ich mag die Kälte. Und irgendwann will ich auch wieder nach München. Denn 1860 werde ich immer in meinem Herzen haben.“ Sein Leben lang.
Einmal Panther, immer Löwe.
Florian Kinast
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