Das blaue Lebensgefühl

Warum bloß soll man zu den Sechzgern halten und nicht zu den viel erfolgreicheren Bayern?Die AZ begibt sich auf Spurensuche – in der Höhle der Löwen quasi
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Bei der Löwen-Jugend stehen Veränderungen an.
Gregor Feindt Bei der Löwen-Jugend stehen Veränderungen an.

Warum bloß soll man zu den Sechzgern halten und nicht zu den viel erfolgreicheren Bayern?Die AZ begibt sich auf Spurensuche – in der Höhle der Löwen quasi

Von Florian Kinast

Unterm Rudi Brunnenmeier geht’s zu wie immer. Kein Platz mehr, nirgends. Am Stammtisch unter dem Bild des Stürmers, die Luft steht, seit Stunden wird geschafkopft. Christl Estermann, die Wirtin, schnauft, außer einem Schelln Unter hat sie nur Schmarrn, dafür hat ihr weißhaariger Nebenmann ein solides Blatt und ruft die Gras-Sau. „Mit der Blauen.“

Logisch mit der Blauen. Mit wem auch sonst? Die einzig wahre Farbe – hier im Löwen-stüberl am Trainingsplatz.

In der Natur ist Blau eine Spektralfarbe, deren Wellenlänge definiert ist, zwischen 420 und 490 nm. In der Grünwalder Straße ist Blau ein Lebensgefühl. Eines, das rational unerklärbar ist. Wie auch?

Sein Herz diesem elenden Malefizverein zu schenken und damit ein endloses Martyrium zu erleiden, der Verstand hätte längst abgeraten. Aber gegen Gefühle ist man wehrlos. Jung wie Alt.

Bei den beiden Rentnern gegenüber von den Kartlern etwa. Hans Winklmaier und Fränki Berndl. Sie sitzen am Fenster, das Fenster ist zu, auf sind die Fenster im Stüberl selten, darum auch die Luft.

Die Löwen hat Berndl erstmals 1947 gesehen. Sieben war er, ein Derby, neutral ging er ins Giesinger Stadion, 1:1, als Blauer kam er heim. Warum? „Die Sechzger hamm schönere Dressn ghabt“, sagt er, „die Bayern waren dunkelrot, graue Ärmel, greislich.“ Sein Spezl, ein Nachbar, war auch dabei, ein Bayern-Fan, nach dem Spiel haben sie sich auf der Thalkirchner Brücke verhauen und nie mehr miteinander gesprochen.

Berndl fuhr 1965 auch mit nach Wembley, zum Europapokal-Finale. Im Bus. „Fuchzg Leut“, sagt er, „bis Aachen war’n die zwanzg Biertragl weg.“ Es gab Nachschub, nochmal 20 Kästen, die reichten gerade so bis Calais. „Und auf der Fähre hamma alle sauber gspiebn.“ Schlecht war’s ihnen, aber schee war’s.

Und dann die Meisterschaft. 66. Eine schöne Zahl.

Ach ja, die glorreichen Sechziger Jahre, von denen draußen am Kunstrasen der Flori, der Christoph und der Marco nur gehört haben. Von ihren Großeltern, wie sie sagen. Ist auch schon lange her. 13 sind sie alle drei und sogar noch so jung, dass sie nicht einmal mehr die Löwen in der Bayernliga miterlebten mussten. Die Gnade der späten Geburt. Unbefleckte Kinderseelen.

Sie sind mit die jüngsten Löwen. Aus der U13, sie kommen Kaufering, Lochhausen, Gröbenzell. Montag, Dienstag, Donnerstag, dreimal Training pro Woche, Anfahrt immer mit Eltern oder Zug. Aber warum dann nicht gleich noch die paar Meter weiter rüber zur Säbener Straße? Weil man nicht so tolle Dinge hört von da drüben, von den Gleichaltrigen. „Bei den Bayern sind sie nur voll auf Ego“, sagt Christoph, „hier wirst du als Mannschaft viel besser ausgebildet, hier ist es auch viel familiärer.“ Freilich, der Christoph wäre schon auch rübergegangen, er ist ja eigentlich auch Bayern-Fan. Deswegen kam er zu seinem ersten Training bei 1860 auch in einem Ballack-Trikot aus alten Bayern-Zeiten: „Da haben sie mich dann aber ziemlich schräg angeschaut.“ Seitdem lässt er es dann doch lieber daheim.

Freilich, auf Gedeih und Verderb verinnerlicht haben sie den Löwen noch nicht, sie wollen noch nicht in Giesing verwurzeln, sondern auf Flügeln in die große Welt. Natürlich, sie sind ja auch noch jung. Real, Barca, ManU, das sind Traumvereine. Und Idole, die sie ins Kinderzimmer hängen, finden sie auch woanders. Dem Flori gefällt Bremens Pizarro, Christoph hält weiter zum Ballack, auch wenn der für die WM ausfällt. Und Torwart Marco, der findet den Timo Hildebrand gut. „Der ist einfach endsstark“, sagt er.

Aber vielleicht kommen sie wieder zurück und sitzen als Rentner dann auch im Stüberl neben den Schafkopfern und räsonieren über einem Weißbier, dass die Löwen nach dem Abstieg Anfang des Jahrhunderts und gut sechs Jahrzehnten in der Zweiten Liga mal wieder aufsteigen könnten.

Eine sportliche Misere, die den Fränki Berndl lange nicht mehr erschüttert, genauso wenig wie Christl Estermann ihr Kartenpech, weil sie schon wieder keine Trümpfe auf der Hand hat, dafür drei Siebener.

Worte wie „endsstark“ hat Hans Winklmaier sicher nie benutzt, macht aber nix, er wirkt auch so gelassen und zufrieden. „Früher hab’ ich mich mehra über die Löwen g’ärgert“, sagt er, „aber i bin’s ja scho g’wohnt. Man kennt’s ja nimmer anders.“ Die blaue Altersweisheit. Winklmaier ist 79 übrigens. 66 Jahre älter als die drei Junglöwen.

66. Eine schöne Zahl.

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