Interview

Schwimm-Idol Michael Groß: "Die Wettkämpfe in Tokio werden sich wie ein Training anfühlen"

"In Tokio kann es nur bergauf gehen!" Das sagt Michael Groß im AZ-Interview. Außerdem spricht Deutschlands Schwimm-Ikone über das Chaos im Verband und die Kritik an IOC-Boss Thomas Bach.
von  Krischan Kaufmann
Ein wenig Skepsis erscheint selbst bei einem Gold-Kandidaten wie Florian Wellbrock angebracht.
Ein wenig Skepsis erscheint selbst bei einem Gold-Kandidaten wie Florian Wellbrock angebracht. © picture alliance/dpa

AZ-Interview mit Michael Groß: Der 57-jährige Frankfurter (Spitzname "Albatros") ist der erfolgreichste deutsche Schwimmer aller Zeiten. Der promovierte Philologe arbeitet heute als Unternehmensberater und hat einen Lehrauftrag an der Goethe-Universität Frankfurt.

AZ: Herr Groß, Sie haben bei den Spielen 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul insgesamt dreimal Gold, zweimal Silber und einmal Bronze gewonnen. Gibt es trotz dieser Fülle an Erfolgen den einen herausragenden olympischen Moment für Sie?
MICHAEL GROSS: Ehrlich gesagt: nein. Klar könnte man meinen, mein erstes olympisches Gold damals in Los Angeles, auch noch mit Weltrekord, das war für mich die Erfüllung aller Träume - aber das ist nicht so. Für mich war Olympia selbst das Ereignis, da passieren so viele tolle Sachen im olympischen Dorf. Man trifft so viele andere Athleten aus anderen Sportarten. Vom Sportlichen her gesehen gibt es in Tokio keinen Unterschied zu früheren Spielen, aber das, was Olympia so einzigartig macht, diese speziell Atmosphäre, das fehlt jetzt natürlich - und das ist ganz bitter für die Athleten.

Für Deutschlands Schwimm-Ikone Michael Groß (u.) fehlt diesen Spielen ohne Fans der besondere Olympia-Flair.
Für Deutschlands Schwimm-Ikone Michael Groß (u.) fehlt diesen Spielen ohne Fans der besondere Olympia-Flair. © picture alliance/dpa

Was glauben Sie, mit welchem Gefühl sind die deutschen Athleten in den Flieger gen Tokio gestiegen?
Ich hoffe, trotzdem mit der klassischen Vorfreude. Man wusste ja schon vorher, dass diese Olympischen Spiele in dieser Form - hoffentlich - einmalig sein werden. Und wahrscheinlich werden auch die Athleten, die jetzt in Tokio teilnehmen, mit einer gewissen Distanz sagen, dass diese Spiele trotz der speziellen Situation - der Verschiebung um ein Jahr und komplett ohne Zuschauer - eine einzigartige Erfahrung waren, die man nicht missen möchte.

Michael Groß über den Boykott von Olympischen Spielen

Wäre es aus heutiger Sicht nicht besser gewesen, auf die Spiele komplett zu verzichten?
Am Ende ist es die alleinige Entscheidung der japanischen Gastgeber und vor allem auch derjenigen, die dort hinfahren. Ich selbst war 1980 vom Boykott der Spiele in Moskau (als Reaktion der USA und einiger Verbündeter, darunter auch die BRD, auf den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, Anm. d. Red.) betroffen. Damals war ich 16 Jahre alt, stand am Anfang meiner Karriere und wusste eigentlich, dass ich nochmal eine Chance bekommen würde. Aber trotzdem war die Situation für mich sehr frustrierend, schließlich hätte ich mich danach auch verletzen können und mit dem Sport aufhören müssen. Für viele Sportler ist Olympia einmalig und die einzige große Bühne, um sich zu präsentieren.

Neben der japanischen Regierung steht ganz besonders das Internationale Olympische Komitee mit seinem Präsidenten Thomas Bach an der Spitze in der Kritik. Spiele um jeden Preis - so lautet der Vorwurf an das IOC.
Thomas Bach war ja 1980 Sprecher der deutschen Athleten und hat damals massiv dafür gekämpft, dass es nicht zu einem Boykott kommt. Nach dem Motto: Ein Boykott bringt nichts. Und wenn man sich heute über 40 Jahre später die Situation in Afghanistan
anschaut, muss man ja leider sagen: Sonderlich verbessert hat sich die Lage dort nicht. Vielleicht sollte man im Kopf behalten, wenn man Thomas Bach beurteilt, dass er diese Erfahrung ja auch gemacht hat. Außerdem: Dass ein IOC-Präsident natürlich darauf bedacht ist, dass die Spiele stattfinden, ist doch logisch.

Der DSV hat 19 Athleten nach Tokio geschickt. Allerdings werden neben Goldhoffnung Florian Wellbrock eigentlich nur noch seiner Verlobten Sarah Köhler Medaillenchancen nachgesagt. Ist das nicht in bisschen wenig für so einen Großverband mit aktuell knapp 600.000 Mitgliedern?
Henning Mühlleitner hat ja gerade über 400 Meter Freistil den vierten Platz erreicht, das ist doch schon mal eine sehr positive Überraschung. Außerdem sollte man sehen, dass 2012 in London und 2016 in Rio die deutschen Schwimmer keine einzige Medaille geholt haben. Insofern kann es jetzt in Tokio ja nur bergauf gehen. (lacht)

Sorgte für die erste Überraschung: Henning Mühlleitner.
Sorgte für die erste Überraschung: Henning Mühlleitner. © picture alliance/dpa

Fast wäre er Interims-Sportdirektor geworden

Im vergangenen April sah einiges danach aus, dass Sie das DSV-Team nach Tokio begleiten würden. Woran ist die Idee, Sie als Interims-Sportdirektor des Verbandes zu installieren, am Ende gescheitert?
Marco Troll (DSV-Präsident, Anm. d. Red.) hat sich zusammen mit dem Präsidium ganz einfach für eine andere Variante entschieden. Um solche Entscheidungen zu treffen, wurden sie gewählt und ich kann das absolut respektieren.

Dabei hatten sich vor allem die Sportler und Trainer für Ihre Einbindung beim DSV ausgesprochen.
Das stimmt. Aber der einzige Grund, warum ich mich - nachdem dieses Anliegen an mich herangetragen wurde - überhaupt damit beschäftigt habe, war die Extremsituation für den deutschen Schwimm-Sport durch Corona. Und eben nicht das Chaos, das der DSV veranstaltet hat, indem man wenige Monate vor Olympia seinen Leistungsdirektor (Thomas Kurschilgen, Anm. d. Red.) freigestellt hat. Das Wasser hat mir in meinem Leben sehr viel gegeben, und in der aktuell schwierigen Situation hätte ich gerne meine Kompetenz außerhalb des Beckens eingebracht.

So wichtig sind Zuschauer beim Schwimmen

Nochmal zurück nach Tokio: Wir alle kennen diese berühmten Szenen der Sportgeschichte, wenn in den olympischen Arenen die Athleten vom Publikum zu neuen Rekorden geradezu getragen werden. Welche Rolle spielt beim Schwimmen der Faktor Zuschauer?
Natürlich gibt es Sportarten wie Fußball oder Beachvolleyball, wo der aktivierende Aspekt des Publikums deutlich größer ist. Aber es ist auch beim Schwimmen blöd, wenn die Zuschauer nicht da sind. Da fehlt völlig die Atmosphäre. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie kommen ins Stadion und es ist wahnsinnig laut, von den Rängen schwappt eine unheimliche Energie ans Becken. Und dann stehen sie auf dem Startblock, der Pfiff ertönt - und plötzlich ist es in einem Stadion mit 12.000 bis 15.000 Menschen mucksmäuschenstill und sie hören nur noch die Klimaanlage rauschen. Das ist einfach ein irres Gefühl - das jetzt in Tokio natürlich wegfällt. Jetzt werden sich die Wettkämpfe von der Atmosphäre her eher wie ein Training anfühlen.

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