Interview

Paralympics-Star Schönfelder: "Ein Zeh als Finger, an den Gedanken musst du dich erst mal gewöhnen"

Der deutsche Ski-Rennfahrer und Paralympics-Star Gerd Schönfelder spricht in der AZ über die Kunst der Improvisation und wie sie sein Leben bestimmt - und über seinen Glauben an eine höhere Macht.
Florian Kinast |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Auf dem Weg zum nächsten Gold: Gerd Schönfelder bei den Paralympics 2010 in Vancouver beim Super G.
Auf dem Weg zum nächsten Gold: Gerd Schönfelder bei den Paralympics 2010 in Vancouver beim Super G. © imago sportfotodienst

AZ-Interview mit Gerd Schönfelder: Die 52-jährige Ski-Legende  gewann 16 Goldmedaillen bei Paralympischen Spielen. Seit einem Unfall im Alter von 19 Jahren ist er schulteramputiert. 2018 wurde er in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.

AZ: Herr Schönfelder, an diesem Sonntag sprechen Sie zum Auftakt einer Veranstaltungsreihe des Münchner fastfood-Theaters über die Bedeutung von Improvisation im Spitzensport. Wie viel Improvisationskunst brauchten Sie denn in Ihrem bisherigen Leben?
GERD SCHÖNFELDER: Sehr viel, ganz allgemein gibt es da keinen großen Unterschied zum Hochleistungssport. Beim Skifahren wie im Leben war es für mich immer wichtig, flexibel zu bleiben, kreative Lösungen zu finden und sich nicht aus der Bahn werfen lassen, wenn etwas anders kommt als gedacht. Ich hab das ja als Teenager erlebt, dass man zwar viel planen kann, das Leben aber de facto nicht planbar ist. Läuft eben nicht immer so, wie du dir das vorstellst.

Sie spielen auf Ihren Unfall am 11. September 1989 an. Eine Woche nach Ihrem 19. Geburtstag wollten Sie auf einen anfahrenden Zug aufspringen, gerieten dabei zwischen Gleis und Bahnsteig, verloren den rechten Arm und vier Finger der linken Hand.
Der Unfall war der Knackpunkt in meinem Leben. Er hat alles verändert, was ich mir zuvor zurechtgelegt hatte. Alles war auf den Kopf gestellt. Die erste Zeit war sehr hart, manchmal wünschte ich mir, die Zeit zurückdrehen zu können, um meinen Arm wieder zu bekommen. Was freilich unmöglich war. Also hab ich mein ganzes Leben neu lernen müssen. Da kamen dann erstmals Kreativität und Improvisationskunst ins Spiel.

"Mental war das furchtbar"

Wie zum Beispiel?
Nach den ersten Wochen im Krankenhaus etwa. Ich war von zuvor 80 auf gerade noch 55 Kilo zusammengefallen, ein echtes Krischperl. Das war krass, ein 19-jähriger Bursch, der erst vor Kraft nur so strotzt und die ganze Welt niederreißen und aus den Angeln heben möchte. Und plötzlich brauchst du jemand, der dir die Zähne putzt und dir auf der Toilette den Hintern abputzt. Mental war das furchtbar. Und dreimal am Tag gefüttert zu werden, das hat meinen Appetit auch nicht gesteigert. Wie sollte ich auch ein Besteck in die Hand nehmen. Rechts war kein Arm mehr da, links war alles eingegipst, außerdem war da nur noch der Daumen übrig. Nach einiger Zeit war das dann mein erstes Ziel. Endlich wieder alleine essen können. Also dachte ich nach und ließ dann meinen Vater anrufen, mit der Bitte, er soll am nächsten Tag Akkuschrauber und Bohrer mitbringen.

Warum das denn?
Das hat er sich auch gefragt. Die Auflösung war, dass wir erst die Breite des Gabelgriffs ausgemessen haben und er dann ein bissl kleineres Loch in den Gips bohrte. So konnte ich mir ab da dann immer die Gabel reinstecken lassen und alleine essen. Und auf einmal schmeckte es schon wieder viel besser. Der erste kleine Schritt zurück zur Selbstständigkeit.

Braucht es bei allem Improvisationstalent nicht auch einen klaren Plan, um sich eine Struktur zu geben, um sich die Schritte für die nächsten Ziele zurechtzulegen?
Natürlich. Man muss auch viel in sich gehen und reflektieren, was man bereit ist zu tun. Im Frühjahr 1990 hatten Ärzte die Idee, einen Zeh zu amputieren und ihn neben meinen Daumen zu transplantieren, damit ich wieder greifen kann. Ein Zeh als Finger, an den Gedanken musst dich auch erst mal gewöhnen. Und da dachte ich mir nach einigem Hin und Her, das Ersatzteillager ist zwar nicht unerschöpflich, aber das eine Mal kannst du es schon riskieren. Und es hat sich ausgezahlt. Ich hab alles wieder neu gelernt, sogar als Rechtshänder das Schreiben mit linkem Daumen und Zeigezeh. Können auch nicht viele von sich behaupten.

"Natürlich bekomme ich im Gespräch mit Gott nicht immer direkt eine Antwort"

Genießen Sie das Leben mehr als vorher?
Ich würde sagen, ja. Ich lebe es bewusster. Ich habe in den letzten gut 30 Jahren keinen Tag gehabt, an dem ich sagte: Alles zum Kotzen heut'. Wenn man in der Früh aufsteht und einen nur leicht was zwickt, aber sonst nix fehlt, dann kannst doch mit einem Lächeln durch den Tag gehen. Natürlich gibt es auch Rückschläge, Krankheiten, Krisen, Trauerfälle. Wichtig ist dann aber, dass man auch enge Freunde und die Familie hat, Menschen, mit denen man reden kann.

In einem Interview mit der Abendzeitung 2016 benannten Sie noch einen anderen Gesprächspartner, mit dem Sie in schwierigen Zeiten einen Dialog führen würden. Und zwar Gott. Ist Gott, ist der Glaube weiterhin ein wichtiger Begleiter in Ihrem Leben?
Absolut. Nicht die Kirche als Institution. Ich meine die christlichen Werte, von denen einige hohe Vertreter der katholischen Kirche, was man hört, traurigerweise weit entfernt sind. Werte, die mir Orientierung geben und Halt. Natürlich bekomme ich im Gespräch mit Gott nicht immer direkt eine Antwort. Dafür gibt es Momente, wo ich glaube, das war so gewollt, da hat eine andere Macht ihre Finger im Spiel gehabt, um jemanden in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Es ist also alles Gottes Plan?
Zumindest bin ich überzeugt, dass es eine Kraft gibt, die uns in eine bestimmte Richtung steuern möchte.

Warum hat Sie diese Kraft dann an Ihrem 11. September nicht in, sondern unter den Zug gesteuert?
Es gibt vieles, was wir nicht begreifen, und wo wir, wenn wir von Gott sprechen, seinen Plan nicht verstehen. Warum wird der eine Mensch 100 und der andere nur zwei Jahre alt? Warum rast Einer Jahrzehnte wie ein Wilder unverletzt über die Autobahn und der andere stirbt am Tag nach seiner Führerscheinprüfung unverschuldet bei einem Unfall? Aber Gott hätte mich ja auch sterben lassen können. Ließ er aber nicht, weil er offensichtlich noch etwas vor hatte mit mir. Diese Zusammenhänge, wieso, weshalb, warum, die Antworten darauf kenne ich nicht. Die werden wir erst nach unserem Tod bekommen, weil danach etwas kommt, worauf wir uns alle freuen können.

"Darum sollten wir die Zeit nutzen, jeden Tag unseres schönen Lebens genießen"

Sie glauben also an das Leben nach dem Tod?
Zu 100 Prozent weiß ich es nicht, aber ich hoffe es, ich wünsche es und bin mir ziemlich sicher.

Entwertet dieser Wunsch aber nicht auch das Leben selbst? Schon Philosophen wie Seneca sprachen davon, dass das Leben ja nur durch die Unausweichlichkeit des sicheren Todes lebenswert sei und sonst völlig an Bedeutung verlieren würde.
Das stimmt auch. Darum sollten wir die Zeit nutzen, jeden Tag unseres schönen Lebens genießen. Carpe Diem. Sonst könnte ich ja, wenn's mal eng wird, gleich freiwillig die Abkürzung ins Jenseits nehmen. Das will ich nicht. Dafür mag ich mein Leben viel zu sehr.

Und wie wird's dann nach dem Tod?
Das weiß keiner. Da muss man dann einfach schauen. Und improvisieren.


Das fastfood-Theater ist längst eine Institution in der Münchner Kulturlandschaft. Zum 30. Jubiläum ihres Impro-Theaters stellen die fastfood-Macher Andreas Wolf und Karin Krug in einer unterhaltsamen und humorvollen Show-Reihe mit Sportlern, Psychologen und Wissenschaftlern die Frage nach der Bedeutung von Improvisationskunst in unserem Leben. Den Auftakt macht der Abend mit Gerd Schönfelder am 9. Oktober um 18 Uhr im EineWeltHaus, Schwanthaler Str. 80. Weitere Infos, Termine und Tickets unter www.fastfood-theater.de

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.