Olympia-Held Greis über das Dahlmeier-Drama: "Es war wohl einfach so, dass ihre Zeit abgelaufen war"

AZ: Herr Greis, nicht nur der Biathlon-Sport, Ihr Sport, sondern die gesamte Sportwelt – ja, die die Welt – trauert um Biathlon-Ikone Laura Dahlmeier, die bei einem Berg-Unglück in Pakistan mit nur 31 Jahren verstorben ist. Haben Sie schon Worte für das Unfassbare gefunden?
MICHAEL GREIS: Nicht wirklich. Alle Worte, die man findet, wirken nur schal. Wie es der Familie von Laura, ihren Freunden, allen, die ihr viel näher gestanden sind als ich, geht, kann mich sich gar nicht vorstellen. Es ist so tragisch, so traurig, so schockierend, sie ist viel zu früh von uns gegangen. Sie war so eine erfahrene Bergsteigerin – und auch keine Hasardeurin, die dem Höhenrausch erlegen ist. Ganz im Gegenteil.
Dahlmeier war dafür bekannt, dass Sicherheit Priorität hatte.
Wenn man sie – wie ich – beim Biathlon erlebt hat, kann man klar sagen: Bei allem, was sie getan hat, war sie nie überhastet, sie war ungemein überlegt und risikobewusst, sie war – bei aller Leidenschaft – immer methodisch und analysierend. Sie war eine brutal gute Bergsteigerin und sich des Risikos, das ein solcher Extremsport, in dem man sich der Natur und seinen Kräften aussetzt, immer bewusst. Laura hat sich, soweit ich das beurteilen kann, nie fahrlässig einer Gefahr ausgesetzt. Ja, sie genoss dieses Abenteuer in den Bergen, aber alles in den Grenzen, die dir die Natur vorgibt. Ich fürchte, man muss einfach sagen: Das war ihr Schicksalstag – und so hart es ist, so schwer es zu akzeptieren ist, aber wenn man sich die Verkettung unglücklicher Umstände ansieht – den Steinschlag, das schlechte Wetter, die Seilgefährtin, die nicht mehr zu ihr vorstoßen konnte – war es wohl einfach so, dass ihre Zeit abgelaufen war. Schrecklich.
Dahlmeier hat "das extreme Bergsteigen einfach geliebt"
Dahlmeier hat ja vor ein paar Jahren gesagt: "Wer in die Höhe geht, muss wissen, dass er auch nicht zurückkommen kann.“
Das zeigt doch nur, wie bewusst ihr war, dass es bei aller Vorbereitung immer ein Restrisiko gibt, das man einfach nicht kontrollieren kann. Es war ja nicht die erste gefährliche Situation, die sie bei ihren großen Touren hatte. Sie war sicher nicht lebensmüde, auch nicht auf der Jagd nach irgendwelchen Rekorden – aber sie hatte die Berge und das Bergsteigen, das extreme Bergsteigen einfach geliebt.

Wann haben Sie Dahlmeier das letzte Mal getroffen?
Das war im Winter. Wir haben sportlich nicht so viel miteinander zu tun gehabt, sie kam in den Weltcup, als ich mich zurückgezogen habe. Aber wir haben uns immer wieder getroffen. Sie war ein besonderer Mensch. Immer schon, schon als junge Frau. Sie war unglaublich nett, sympathisch, bodenständig, authentisch. Sie war ein ganz toller Vertreter des Biathlonsports. Sie hat mit ihrer ungekünstelten Art begeistert.
Dahlmeier beendete bereits mit 25 Jahren ihre Biathlon-Karriere
Es gibt nicht viele Sportler, die so echt, frisch und sympathisch waren wie Dahlmeier.
Es gibt viel, was ich mit ihr verbinde. Da war diese unglaubliche Naturverbundenheit – und auf der anderen Seite die extreme Konsequenz, mit der sie ihre Ziele verfolgt hat. Sie war immer bereit, ihren eigenen Weg zu gehen und sich dabei von nichts abbringen zu lassen. Wie sie zum Beispiel mit gerade einmal 25 Jahren gesagt hat: Das war es, ich beende meine Karriere. Das hat mich beeindruckt. Und das, obwohl sie in den jungen Jahren noch nicht am Leistungslimit war, sondern sie noch viele Triumphe und auch Medaillen hätte feiern können. Aber das hat sie nicht mehr interessiert, sie war Doppelolympiasiegerin, siebenmal Weltmeisterin, sie hätte alle Rekorde brechen können, aber in dem Moment, als sie die Karriere beendet hat, war ihr einfach klar, dass ihr andere Dinge – eben auch die Berge – einfach wichtiger waren, als jeder Platz in den Geschichtsbüchern. Sie war immer schon ein echter Freigeist, der getan hat, was sich für sie richtig angefühlt hat und nicht das, was man vielleicht von ihr erwartet hat. Und wissen Sie, was mich an Laura immer schon besonders beeindruckt hat?
Erzählen Sie. . .
Wie unglaublich reflektiert sie immer war. Man hatte immer das Gefühl, sie ruht vollkommen in sich und ist in der Lage, eine Situation aus der Vogel- oder Himmelsperspektive zu betrachten und zu bewerten. So, als würde sie innerlich einen Schritt zurücktreten und alles von einer höheren Warte auf sich wirken lassen. Diese Gabe habe ich oft bei Leuten erlebt, die sehr naturverbunden sind, die in der Lage sind, Kraft in der – und durch die – Natur zu tanken. Sie hatte schon immer eine – Weisheit ist vielleicht ein zu großes Wort – ich würde es, eine kleine Stufe unter der Weisheit ansiedeln: mehr ein tiefes Verständnis, ein Bewusstsein für die Ordnung der Dinge. Auf jeden Fall hatte sie eine sehr erwachsene – fast schon weise – Seele.
"Wenn ich darüber nachdenke, läuft es mir kalt den Rücken runter"
Dahlmeier sagte auch, die Berge seinen ihr Kraftort.
Das glaube ich sofort.
Zu Ihrer Beschreibung der weisen Seele passt, dass Dahlmeier sich vor ihren Bergabenteuern viele Gedanken über die Risiken und ihre Sterblichkeit gemacht hat. Sie hat ein Testament im Lager hinterlassen, dass kein Retter sein Leben riskieren soll, um ihren Leichnam zu bergen. So ist es gekommen: Ihr Todesberg – der Laila Peak – ist nun sozusagen ihr Grabstein.
Das zu tun, ist supervernünftig, aber ich finde es auf der anderen Seite auch richtig krass. Diese Tatsache allein zeigt, wie reflektiert, wie klar im Kopf sie war. Wie sehr sie – bei aller Freude an dem, was sie tat – auch die Risiken abgewogen hat. Wenn ich darüber nachdenke, läuft es mir kalt den Rücken runter. Wie gesagt, es ist so unglaublich bitter, was jetzt passiert ist, wie es passiert ist. Als die ersten Meldungen von dem Unglück kamen, hatte ich ja noch Hoffnung, dass Laura gerettet wird. Weil ich wusste, die Laura, die ist brutal zäh, die ist unglaublich fit, wenn jemand da rauskommt, dann sie. Aber das Schicksal wollte es anders. Sie ist jetzt wirklich in der Blüte ihres Lebens aus dem Leben gerissen worden. Und natürlich denke ich mir, hätte sie die Karriere nicht beendet, dann würde sie sich jetzt auf die Olympischen Spiele im kommenden Jahr in Cortina vorbeireiten. Aber sie hat sich in ihrem Leben immer für ihre Leidenschaft entschieden. Das war lange Zeit der Biathlonsport – und dann eben die Berge. Leider hat sie genau diese Leidenschaft nun das Leben gekostet. Es ist alles so unendlich traurig.