„Nicht denken – einfach einen raushauen!“
Speerwurf-Legende Klaus Wolfermann, Sieger bei Olympia 1972 in München, über die deutschen Medaillenkandidatinnen: Er ist überzeugt von Steffi Nerius – und zweifelt an Christina Obergföll.
AZ: Herr Wolfermann, in Peking verhinderte Christina Obergföll mit Bronze die olympische Nullnummer. Was trauen Sie ihr und Speerwurf-Kollegin Steffi Nerius am Dienstag in Berlin zu?
KLAUS WOLFERMANN: Ich habe noch vergangenes Jahr mit beiden trainiert und mit Christina erst vor einer Woche telefoniert. Ich habe ihr noch ein paar Empfehlungen gegeben. Vor allem Steffi ist ein hochinteressantes Phänomen. Die Leistungen, die sie in diesem Jahr gebracht hat: Hut ab! Dabei nutzt sei die Spannung, das Aufladen der Energie im Körper, nicht ideal aus. Aber, wenn es gut läuft, traue ich ihr bei ihrem letzten Wettkampf eine Medaille zu.
Und Obergföll?
Vom Potenzial her ist sie für mich die Stärkste im ganzen Feld, sie kann alles.
Aber?
Nun, ich bin mir nicht sicher, ob die Kraftwerte nicht überbetont wurden, ob man darüber vielleicht die Beweglichkeit ein bisschen vernachlässigt hat. Ich habe darüber auch mit ihrem Trainer gesprochen, ob nicht zu viel experimentiert wurde. Sie hat ja auch einige muskuläre Probleme. Das ist hart, denn in einem großen Wettkampf muss dein Geist wissen, dass er volles Vertrauen in den Körper haben kann. Da heißt es: Nicht denken – einfach einen raushauen! Aber ich spüre jetzt in ihr wieder das Feuer, um was zu reißen.
Obwohl Obergföll in Peking eine Medaille geholt hat, war sie enttäuscht.
Ich finde, sie war in Peking überfordert. Sie hat sich mit dem Thema Niederlage vorher nicht befasst. Es ist aber verkehrt, wenn einer in einen Wettkampf reingeht und sagt, ich bin der Größte. Da muss man auch Demut zeigen.
Deutschland war stets eine Speerwurf-Nation, davon ist nicht mehr viel übrig.
Das ist ein ganz heißes Kapitel. Ich muss fast beschämt feststellen, dass sich unsere Speerwerfer von Jahr zu Jahr technisch verschlechtern. Das Speerwerfen ist bei uns nicht mehr das, was es einmal war. Ich sehe die Zukunft eher negativ.
Woran liegt es?
Das Frustrierende ist, dass wir gute Junioren haben, die dann aber wegbrechen. Die Jungs können ja nichts dafür, sie können es nicht wissen, aber viel zu viele Trainer, die es besser wissen müssten, bringen nicht das Optimum mit, was Bewegungslehre, Technik und Trainingslehre angeht. Da müsste der Verband grundlegend herangehen. Das Umfeld stimmt oft nicht. Die Aufbereitung von Wissen fehlt. Da gehört nicht nur werfen, sprinten, springen dazu, sondern dazu gehört die Vermittlung von Lebensweisheiten. Das geben die heutigen Trainer zu wenig mit. Wenn man das sieht, blutet einem das Herz.
Und dann haben die Sportler Probleme mit dem Druck bei einer Weltmeisterschaft im eigenen Land?
Jeder deutsche Athlet wäre psychologisch falsch eingestellt, wenn er diesen Faktor nicht in die Vorbereitung einbeziehen würde. Bei Olympia in München, wo ich studiert und gelebt habe, war mir klar: Da will ich besonders gut abschneiden. Mein Trainer und ich haben das alles in die Vorbereitung aufgenommen. Ich wollte diesen Heimvorteil bewusst nutzen. Es war für mich gravierend, dass ich mich, als die Gruppe der Speerwerfer ins Stadion geführt wurde, sofort an der Spitze platzierte. Ich wollte als Erster reingehen. Und die Anfeuerung war dann gleich ein weiteres Stückchen Selbstvertrauen, das aber von außen kam.
Dabei galt ja der Russe Janis Lusis als unbesiegbar.
Ja, er war so weit weg! Er hatte in dem Jahr Weltrekord geworfen. Ich wusste, er ist eigentlich für mich nicht erreichbar. Zudem war er noch ein Vorbild für mich. Er führte zwar, aber ich merkte, der Janis kommt heute nicht weiter. Also habe ich alles aufs Ganze gesetzt, den Anlauf verlängert. Ich habe gesagt, entweder es zerreißt mich oder es scheppert. Dann flog der Speer über die 90 Meter. Das war das Produkt der gesamten Vorbereitung.
Und plötzlich hatten Sie Ihr großes Idol besiegt!
Ja, wie der Wettkampf entschieden war, bin ich zu ihm hin und habe gesagt: ‚Entschuldige, dass ich heute gewonnen habe.' Und er meinte nur: ‚Macht nix, ich habe ja in Mexiko City schon Gold geholt.' Das war der Beginn einer permanenten Freundschaft, die bis heute hält.
Olympia soll 2018 wieder nach München kommen...
Ich stehe dem positiv gegenüber und habe auf die Anfrage, ob ich als Botschafter sein möchte, sofort reagiert. Es ist sinnvoll für München, für Bayern, für Deutschland.
Auch die Witwen der israelischen Athleten, die beim Anschlag 1972 in München ermordet wurden, plädieren für die Bewerbung.
Das ist eine sehr beeindruckende Geste, das zeugt von Größe. Was damals passiert ist, hat dem Sport die Unschuld genommen. Bis dahin waren es die freundlichsten, sympathischsten Spiele, die ich je erlebt habe. Nach dem Attentat war alles anders. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden extrem verstärkt, dadurch war diese Verbindung vom Athleten zum Zuschauer nicht mehr so möglich. Diese Gemeinschaft, Olympia als Treffen der Jugend, als Treffen der Menschen, gab es danach nie wieder in dieser Form. Der Sport ist missbraucht worden.
Interview: Matthias Kerber
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