Natur, Stille, Genuss
München - Wandern? Meine Kinder verdrehen die Augen. Dürfen sie auch. Schließlich sind sie in der Pubertät, da ist das Wort Wandern aus ihrem Wortschatz gelöscht. Ich aber schließe die Augen, wenn ich ans Wandern denke. Vor Sehnsucht. Vor Vorfreude. Wandern macht mich glücklich, so einfach ist das.
Wenn ich von München Richtung Garmisch fahre und sich mit einem Mal das Alpenpanorama vor mir auffächert wie eine Ziehharmonika, denke ich, wie großartig es ist, so nahe an den Bergen zu wohnen. Eben bin ich noch in der Großstadt mit ihrem ständigen digitalen und analogen Dauer-Geplapper – wenig später gehe ich im gleichmäßigen Rhythmus einen Wanderpfad entlang und habe um mich herum: Natur. Stille. Einen weiten, offenen Himmel.
Nichts beamt mich so schnell runter von meinem Alltagsspeed wie eine Bergtour. Zwischen Tal und Gipfel geht es nur um die Basics: Atmen. Gehen. Essen. Trinken.
Ich spüre das Gewicht des Rucksacks, die Temperaturunterschiede, wenn ich aus dem Schatten des Waldes in die sonnenüberflutete Almwiese trete. Ich, die ich immer in Gedanken bereits beim Übernächsten bin, bin plötzlich ganz in der Gegenwart. Bewege mich der Witterung und dem Untergrund entsprechend.
Steige über rutschige Wurzeln und grobe Steine, stütze mich an kantigen Felsnasen ab, suche Tritt beim Überqueren von Geröllhalden. Das Ausbalancieren, die Koordination von Füßen und Händen, all das passiert automatisch.
Kein Trainer braucht mir zu sagen, was ich zu tun habe. Kein Trainingsplan schreibt mir vor, in welcher Zeit ich den Gipfel oder die Almhütte erreichen muss. Einfach unterwegs sein: Was für ein Luxus! Was für eine Freiheit!
Und dennoch: Wandern ist Sport. Ein hervorragender sogar! Er trainiert die Grundlagenausdauer, beansprucht Muskeln, Sehnen und Gelenke. Ohne ausreichende Kondition jedoch lassen sich die Berge, die Landschaft, die wechselnden Ausblicke und Eindrücke nicht genießen.
Und weder Familien mit kleinen Kindern noch ältere Menschen müssen aufs Wandern verzichten. Die Berge bieten ja in ihrer Vielfalt für jeden etwas: Glucksende Bäche zum Plantschen. Warme Felsblöcke zum Kraxeln. Versteckte Almwiesen zum Sonnenanbeten. Hütten, bei denen jede Apfelsaftschorle und jeder Kaiserschmarrn zum ultimativen kulinarischen Genuss wird.
Schon klar: Nicht immer scheint die Sonne, ist der Weg spannend und das Ziel so nah, wie ich es mir wünsche. Letztens bin ich mit meinem Mann auf die Wiener Neustätter Hütte gegangen. Nach der Hälfte des Weges zog es zu – wir wanderten in Wolken, hatten keine Sicht und es wurde unangenehm kalt. Die Hütte kam und kam nicht. Zum Verzweifeln!
Vor uns drehte ein Paar sichtlich entnervt um. Wir gingen weiter – und wurden belohnt: Da lag sie endlich! Auf den Rückweg wurde es schlagartig wieder hell, und wir machten in der Sonne ein Mittagsschläfchen.
Wieder einmal hatten sich die Berge als Überraschungstüte entpuppt. Ist das nicht großartig? Dass man nie genau weiß, welchen Verlauf eine Wanderung nimmt? Und die angenehme Müdigkeit danach, der Kopf durchgepustet und der Körper nebenbei effektiv trainiert.
Und da soll man die Augen verdrehen?
Frauke Gerbig
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