Lobinger: „Sie treten unsere Gefühle mit Füßen“
Stabhochspringer Tim Lobinger, der die WM verpasst hat, kritisiert sich – und den Leichtathletik-Verband.
AZ: Herr Lobinger, wie sehr blutet Ihr Herz, dass Sie bei der Heim-WM nur als Zuschauer dabei sind?
TIM LOBINGER: Wenn ich es mit vergangenem Jahr und dem Zittern, ob ich Olympia in Peking miterleben darf, vergleiche, bin ich jetzt sehr gelassen. Ich hatte keine gute Saison. Also warum soll ich mir einreden, dass ich jetzt 5,90 gesprungen wäre und das erreicht hätte, was ich bei den letzten sieben WMs nicht erreicht habe – eine Medaille? Stabhochsprung beginnt bei Großereignissen bei 5,80 Meter, das habe ich 2009 nicht erreicht. Daher ist es richtig so. Ich habe mich in dieser Saison selber oft enttäuscht.
Sie haben in Ihrer Karriere bisher 99 Mal die zitierten 5,80 übersprungen.
Ja, und in diesen Klub der 100 muss ich unbedingt rein und wenn mich 20 Mann die ersten zehn Meter schieben und sie mich mit dem Kran hochfahren müssen!
Mussten Sie Ihrem Alter, Sie werden 37, Tribut zollen?
Das ist die Frage, die ich mir auch als erstes stellte. Wir haben nüchtern geprüft, wie schnell war ich mit 20, mit 26, mit 32 und jetzt. Das haben wir alles elektronisch gemessen als Daten. Da kann man sich nicht selbst betrügen. Die Fakten sagten, dass ich eine neue Bestleistung aufgestellt habe. Aber ich muss zugeben, ein bisschen hat mich das Alter doch eingeholt. Diese dumme, naive, blinde Leistungsbereitschaft in den Wettkämpfen, egal, welche Bedingungen sind, von denen man weiß, dass da nichts gehen kann, aber man probiert’s doch, die war dieses Jahr weg. Dieses Don-Quichotte-mäßige, das war nicht mehr da.
Sie sind das Eine, aber der gesamte deutsche Stabhochsprung ist 2009 abgestürzt.
Ja, wir hatten so viele Verletzungen wie seit zehn Jahren nicht, so schlechte Leistungen wie seit zehn Jahren nicht. Dafür gibt’s Gründe. Jetzt drücke ich meinen Kollegen die Daumen, aber wenn die WM vorbei ist, wird sich das Team zusammensetzen müssen und Tacheles sprechen. Ich mag meine Kollegen viel zu sehr, als dass ich jetzt eine Bombe zünden würde. Aber Sprengstoff gibt’s genug. Es ist eine Missplanung, wenn ausgerechnet bei der Heim-WM die Anzeichen die schlechtesten sind, die wir je hatten.
Jetzt, die Heim-WM. Ist das Ansporn oder Hemmschuh?
Ich denke, 80 Prozent der Mannschaft haben in dem Moment, in dem sie im Stadion standen, gewusst, warum sie Leichtathletik machen, hatten das Gefühl, von dem sie als Kind geträumt haben. Aber 20 Prozent werden erlebt haben, dass Sie unter extremen Stresssituationen zerbrechen. Das heißt nicht, dass die gleich aufhören, aber dass sie vielleicht froh sind, wenn sie einen Wettkampf weit weg von Deutschland bestreiten können.
Sie hatten große Erfolge, aber bei den WM-Großereignissen war Tim Lobinger auch nicht gerade ein Erfolgsgarant.
Richtig. Aber ich denke trotzdem, dass ich sehr stressresistent bin. Dass es bei mir nicht geklappt hat, steht eher im Kleingedruckten als der Überschrift. Aber das verstehen die Wenigsten und daher rede ich nicht groß drüber, weil es für viele nur wie eine Ausrede klingt, nicht wie eine Erklärung. Ich lebe von Emotionen. Dass ich dann vielleicht nicht mehr die Steigerungsmöglichkeiten hatte, liegt daran, dass ich zu viele Energien verbrannt habe. Wenn man sich immer wieder mit dem Verband anlegt, wenn man denkt, denen zeige ich es, die haben keine Ahnung, ist man lange motiviert, aber irgendwann des Kämpfens müde.
Denken Sie, dass man bei dieser WM den Athleten mit den frühen Nominierungszeiten den nötigen Respekt erweist?
Sicher nicht! Es ist sehr unglücklich, wenn man sich in diesem Moment an Formalitäten hält, während sonst Formalitäten im Verband nichts zählen. Also im Negativen wendet man es immer an, im Positiven reagiert man immer falsch. Wenn man eine Verena Sailer hat, die die schnellste Europäerin ist, ist es dumm zu sagen, du musst es uns nochmal beweisen. Wenn der Verband dieses Vertrauen in die Athleten nicht hat, fehlt den Sportlern dieses Vertrauen, wenn sie vor 50000 Fans im Stadion Leistung bringen sollen. Respekt wurde einem vom Verband nicht entgegengebracht. Das ist unsportlich, und gewissermaßen unmenschlich. Was nützt es einem, wenn man einen Knebelvertrag zusammenstellt, der sich Athletenvereinbarung nennt, in dem steht, dass der Verband das Bestmögliche zur Förderung der Athleten tut, wenn man eigentlich die Gefühle und die Entwicklung der Athleten nur mit Füßen tritt?
Harte Worte!
Ich glaube, es ist bekannt, dass man nur die Tage zählt, bis Sportdirektor Jürgen Mallow geht. Die ganzen Altlasten, die sich in den letzten fünf Jahren summiert haben, die wollte man mit der WM einigermaßen glänzend in die Kiste legen und dann Deckel drauf. Man hat halt gedacht, dieses Jahr geht schnell rum, aber es hat doch 365 Tage.
Vielleicht ist es Zeit, dass Sie sich im Verband einbringen.
Ich kann es mir gewissermaßen vorstellen. Da hat sich bei mir im Laufe der Zeit eine Art Bereitschaft entwickelt, zu helfen. Weil ich sehe, dass es viele gibt, die umdenken. Man muss sicher die Funktionalität der im Verband arbeitenden Funktionäre überdenken. Das heißt, einen echten Funktionär nur als Funktionär sollte es in meinem Augen nicht mehr geben. Weil man dann immer betriebsblind wird.
Interview: Matthias Kerber
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