Krischperl gegen Kraftprotz

Lemaitre vs. Chambers: Das ungleiche Duell um den EM-Titel im 100-Meter-Sprint
Frank Busemann nannte ihn einen Leptosomen. Der Fachbegriff für Menschen, die rein körperbaulich dürr sind, hager und flachbrüstig, auf gut münchnerisch würde man also Christophe Lematire auch ein Krischperl nennen. Bei Dwain Chambers käme man darauf eher weniger.
Am Mittwochabend küren die Leichtathleten den schnellsten Mann Europas, doch selten hat es bei einem großen Wettkampf in einem 100-Meter-Duell ein ungleicheres Duell der beiden Top-Favoriten gegeben. Hier der schmächtige Franzose (1,89 Meter, 74 Kilo), der manchmal eher einem ausgemergelten Langstreckenläufer ähnelt, dort der muskelprotzende Brite (1,80 Meter, 83 Kilo), bei dem man sich manchmal wundert, wie der vor lauter Kraft überhaupt noch laufen kann.
Hier der Typ Intellektueller, der brave Student der Elektrotechnik aus dem beschaulichen Annecy, dort der böse Bube aus dem Problemviertel Islington im Norden Londons, dem immer der Makel des Dopingsünders anhaften wird. Das Duell Everybody’s Darling gegen Persona non grata, vor allem aber, wie es viele sehen, das Duell der Hautfarben. Dabei hält Lemaitre herzlich wenig von Schwarz-Weiß-Malerei.
Das machte er klar, als er vor gut zwei Wochen bei den nationalen Meisterschaften 9,98 Sekunden lief. Eigentlich nichts Besonderes, das war schon 71 Menschen vor ihm geglückt. Aber diese 71 waren alle dunkelhäutig. Und Lemaitre war der erste weiße Mensch.
Natürlich ging es in den Fragen danach dann gleich um die alten wissenschaftlichen Thesen, dass farbige Menschen von Natur aus mehr Testosteron hätten und mehr rote Muskelfasern, die schneller kontrahieren. Doch Lemaitre machte klar, was er darüber dachte. „Ich finde es abwegig, von weißen und schwarzen Sprintern zu sprechen“, sagte er. „Es kommt nicht auf die Hautfarbe an, sondern auf die Lust, die Bissigkeit, das Training.“ Das waren bemerkenswerte Worte eines 20-Jährigen, der erst mit 15 in den Leichtathletik-Verein ging und der von der Heim-WM 2005 in Paris nichts mitbekommen hatte. „Das war mir damals auch noch völlig egal“, sagte er, „ich war nur an meinem Lieblingsverein Olympique Marseille interessiert.“
Auch Dwain Chambers war damals nicht in Paris dabei, bei ihm lag es aber an seiner zweijährigen Dopingsperre, die er abzusitzen hatte, nachdem sie ihn 2003 positiv getestet hatten, ihm der EM-Titel von München 2002 aberkannt worden war. Seit 2006 läuft er wieder, richtig glücklich sind die Briten mit dem 32-Jährigen, der in den Skandal um das Balco-Labor verwickelt war, aber nicht. Selbst in der offiziellen EM-Mannschaftsbroschüre der Briten fehlt zwischen Mickey Bushell und Eilidh Child der Name von Chambers. Zumindest beim Doping ist das Farbenspiel angebracht. Lemaitre gilt als Mann mit der weißen Weste. Chambers ist das schwarze Schaf. fk