In Windeln in den Westen

Felix Loch war noch ein Baby, als seine Eltern von Thüringen an den Königssee zogen. Heute arbeitet sein Vater Norbert als Rodel-Bundestrainer – und er ist Weltmeister. 20 Jahre nach dem Mauerfall.
Am 9. November ist er drüben im Westen. Weit im Westen. In den Bergen von British Columbia, kurz vor der kanadischen Pazifikküste. Norbert Loch, der Bundestrainer, wird dann am Eiskanal von Whistler sein, zusammen mit den besten deutschen Rodlern. Jan Eichhorn, David Möller und Felix Loch. Dem Weltmeister. Seinem Sohn.
Der 9. November wird ein wichtiger Tag sein für Norbert Loch. Weil es der letzte vorolympische Test ist, vor den Winterspielen drei Monate später. Das ist für ihn viel wichtiger als das vor 20 Jahren. „Aber a bisserl“, sagt er in seinem sonderbaren Dialekt aus kernigem, in 19 Jahren angelerntem Bairisch, untermalt von letzten rudimentären Thüringer Fragmenten, „werde ich sicher an damals denken.“
Damals am 9. November war er noch drüben im Osten. Knapp im Osten. Damals saß Norbert Loch noch im Todesstreifen, gleich hinter der Grenze. Der heute 47-Jährige, der 1962 geboren wurde, sieben Monate, nachdem sie die Mauer bauten. Sein Sohn Felix kam auf die Welt, drei Monate, bevor sie wieder fiel.
Ja, auch Norbert Loch war ein guter Rodler. In Friedrichroda wurde er groß, ein Luftkurort im Thüringer Wald, in den die DDR-Bürger zur Sommerfrische fuhren, wo es auch ein großes Ferienheim des FDGB gab, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Norbert Loch kam in die Kinderjugendsportschule, später dann zum Armeesportklub Vorwärts Oberhof, und er schaffte es 1984 bis Olympia. Zu den Spielen von Sarajewo. Auf Platz 13 kam er damals, immerhin, ein solides Ergebnis, aber es reichte nicht zum großen Olympiasieger, zum Volkshelden, zum Empfang bei Erich Honecker, um sich den Großen Vaterländischen Verdienstorden in Gold an die Brust heften zu lassen.
Loch schulte um auf Trainer, wurde Nachwuchsbetreuer in Sonneberg. Fünf Kilometer von der BRD entfernt. Vermintes Grenzsperrgebiet, der Todesstreifen. Wo das DDR-Regime ganze Wälder abholzte, damit die Grenzsoldaten freie Sicht hatten auf Flüchtlinge. Und freie Schussbahn.
Dann kam der Herbst ’89. „Die Leipzig-Geschichten“, sagt er, „die Demonstrationen an den Montagen, das habe ich alles am Fernseher mitbekommen. Es war bewegend, auch wenn mein Kopf woanders war.“ Bei seiner Frau nämlich, die schwer krank in der Klinik lag, wenige Wochen nach der Geburt von Sohn Felix, um den sich der Papa nun alleine kümmerte. Und dann kam der 9. November, auch damals war er beim Training, nur eben in Oberhof und nicht in Whistler. „Auf der Heimfahrt nach Sonneberg“, sagt Loch, „da war plötzlich richtig Zinnober auf den Straßen. Die wollten alle in den Westen.“ Rüber nach Oberfranken.
Alle. Außer Loch.
Loch freute sich, das schon, aber Euphorie, grenzenlose Begeisterung, nein, das war ihm fremd. „Ich musste ja am 10. November wieder zur Tagesordnung übergehen.“ Er musste ja an sich denken und seine Familie. An den Alltag.
Denn der sah bald trüb aus. Seinen Job als Trainer verlor er, weil das Geld dafür ausging. Er schulte um auf Zimmerer, bis plötzlich das Angebot aus Königssee kam, als Landestrainer nach Bayern zu gehen. Und Loch ging. Mit seiner Frau, der damals siebenjährigen Tochter und Felix, der in Windeln in den Westen kam.
Aber Loch kannte das Berchtesgadener Land ja schon ganz gut. Ab 1979 war er jedes Jahr da, zu internationalen Rennen. „Ich war einer der Privilegierten“, sagt er, „einer der schon wusste, wie es hinter der Grenze aussieht.“ Wie schön es da aussieht. Denn der Königssee war ihm schon immer der liebste Fleck. Erst vor kurzem war er bei seiner Mutter in Thüringen. Sie erinnerte ihn daran, dass er als Jugendlicher mit glänzenden Augen heimkam und sagte: „So schön wie am Königssee ist es nirgendwo sonst.“
Und Loch lebte sich gut ein, auch der Mentalität und der Konfession wegen, denn da waren die Unterschiede weniger gravierend als zwischen den sanften Hügeln Thüringens und den gewaltigen Felsmassiven des Berchtesgadener Landes. „Friedrichroda“, sagt er, „war eine katholische Enklave, da tickten die Leute ähnlich wie hier“. Und Vorbehalte, weil er ein DDRler war, hatte keiner. „Da herunten“, sagt er mit breitem Schmunzeln und in breitem Bairisch, „da gibt’s koane Ossis, da gibt’s bloß Preißn.“
Egal ob Oberhausen oder Oberhof, Solingen oder Sonneberg. Es gibt nur welche von droben. Keine von drüben.
Und der Felix war eh immer einer von hier. Er, der Doppel-Weltmeister, der 2008 und 2009 den Titel holte, weil er nicht nur nach dem ersten Durchgang zur Halbzeit vorne lag, sondern nach der Entscheidung im zweiten auch.
„I kenn’ ja nix anders“, sagt er, der gebürtige Thüringer, „des is mei Hoamat.“ Und darum macht sich Loch junior auch nicht so viele Gedanken über die ganzen Probleme mit Ost und West und darüber, ob zusammenwächst, was zusammengehört – oder auch nicht.
In Vancouver wird sich Felix Loch mit bis zu 154 Stundenkilometern hinunterstürzen. So rasant wie in keinem anderen Eiskanal der Welt. Zu schnell findet Norbert Loch das nicht. Zu schnell war ihm eher das Tempo bei der Wiedervereinigung. „Das kam zu plötzlich.“
Die ersten zehn Jahre, so bis zur Millenniumswende, da habe das noch halbwegs funktioniert, meint er, wegen der Aufbruchstimmung. Aber die wich einer Resignation, wegen der Versprechen, die nicht gehalten wurden. Aber auch wegen der Einstellung der Menschen im Osten, wie Loch meint: „Ich bin ja auch nicht hierher, weil ich dachte, hier gibt es gratis Bananen“, sagt er. „Ich musste rackern, mir alles erarbeiten, aber wenn ich die Leute heute in Thüringen höre, dann höre ich nur Meckerei. Die schimpfen alle auf den Westen, aber selbst tun sie viel zu wenig. Die müssten selber die Ärmel hochkrempeln.“ Die, die vor 20 Jahren noch so einen Zinnober machten.
Auch der Retro-Trend, das Verklären der DDR, ist Loch ein Gräuel. So wie das mit der Fassbrause etwa, eine Limonade, geschmacklich irgendwo zwischen abgestandenem Almdudler und schalem Spezi, von Ostalgikern zum Kult-Objekt hochstilisiert. Loch erzählt, wie er mit Mannschaftskollegen 1985 in einer Kneipe in Altenberg saß und der Wirt Fassbrause aufs Haus anbot. „Da haben wir abgelehnt. Das Zeug war so fürchterlich, das haben wir schon damals nicht saufen können.“ Aber Norbert Loch schmeckt eben vieles nicht, was so seit 1989 in der deutsch-deutschen Geschichte lief. „Die Gesellschaft“, bilanziert er am Ende des langen Gesprächs in seinem Berchtesgadener Trainerbüro, „die Gesellschaft müsste sich viel mehr Zeit füreinander nehmen.“
Ob sie sich die Zeit nimmt, wird er vom Königssee verfolgen. Nach der Scheidung von Felix’ Mutter lebt er hier seit bald zehn Jahren mit seiner zweiten Frau, einer Lehrerin aus Schönau. Und wenn der Bob- und Schlittenverband nicht eines Tages auf die Idee kommt, die Zentrale nach Thüringen zu verlegen, wird er wohl immer hier bleiben.
„Ich habe schon nach dem Mauerfall gesagt, es wird 40 Jahre dauern, bis wir wirklich zusammengewachsen sind“, sagt er. „40 Jahre, und das glaube ich heute noch.“ 20 sind es bis jetzt. Ein Rodler würde sagen, der erste Durchgang ist gerade vorbei.
Florian Kinast