WM 2018: Nicht in Russlands Kader - Das sagt Roman Neustädter im AZ-Interview

Der 30 Jahre alte Roman Neustädter absolvierte zwei Testspiele für Deutschland und läuft seit 2016 für Russland auf.
AZ: Herr Neustädter, Sie wurden vergangene Woche noch aus dem endgültigen WM-Kader Russlands gestrichen. Wie haben Sie das erlebt?
ROMAN NEUSTÄDTER: Ich war geschockt und sehr enttäuscht, weil ich mir große Hoffnungen gemacht habe, bei der WM zu spielen. Den Schock habe ich einigermaßen verdaut, weiß aber immer noch nicht so richtig, warum ich nicht bei der WM dabei sein darf.
Hat Ihnen Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow keine Begründung genannt?
Er hat mir schon gesagt, warum und was ihm an mir fehlt. Was genau, das bleibt unter uns, aber ich teile seine Meinung nicht ganz, weil ich weiß, dass ich in der ganzen Saison und auch im WM-Trainingslager meine Leistung gebracht habe.
Ist mit der verpassten WM ein Lebenstraum für Sie geplatzt?
Wenn man schon so nahe dran ist, eine WM zu spielen, ist das extrem bitter. Zumal es für mich eine WM in meinem Heimatland gewesen wäre, meine Oma und meine ganze Familie aus Russland wären da gewesen. Da ist schon ein ganz großer Traum zerstört worden.
Roman Neustädter: Weiter für Russland? "Das möchte ich"
Werden Sie weiter für Russland auflaufen?
Das möchte ich eigentlich und hoffe, dass ich mal die Chance bekomme, regelmäßiger für die Nationalelf zu spielen. In den letzten zwei Jahren habe ich nur drei Spiele gemacht. Da ist es schwierig, sich einzuspielen oder besonders zu zeigen.
Schauen Sie das Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien nun trotzdem vor Ort in Russland an?
Nein, dafür schmerzt es dann doch zu sehr, nicht selbst auf dem Platz dabei sein zu können. Ich werde aber auf jeden Fall mit den Jungs mitfiebern. Ich weiß, wie laut die Fans im Luschniki-Stadion in Moskau sind und dass das ganze Land hinter der Mannschaft stehen wird. Ich hoffe, dass diese Energie auch auf dem Platz ankommt. Die Fans sollen sehen, dass die Spieler bereit sind, für sie zu kämpfen. Sie tragen Verantwortung für ein ganzes, riesiges Land. Es wird wichtig sein, im Kopf trotzdem nicht zu sehr zu verkrampfen und nicht zu viel zu wollen.
War die Aussicht auf die Heim-WM auch ein Grund dafür, warum Sie sich 2016 für die russische Nationalmannschaft entschieden haben?
Nicht wirklich. Ich musste damals nicht lange überlegen. Denn ich habe zwei Nationalitäten in mir und bin stolz darauf, halb Deutscher und halb Russe zu sein. Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme. Meine ganze Familie, die noch in Russland lebt, ist sehr stolz und glücklich darüber, dass ich mich entschieden habe, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, allen voran meine Oma. Ich kenne die Sprache, die Mentalität und habe noch vier Jahre dort gelebt. Das sind meine Wurzeln. Der verlorene Sohn ist quasi nach Hause gekommen. So hat es meine Familie gesagt.
Kam im russischen Trainingslager schon WM-Stimmung auf?
Gerade die Jungs, die in Russland spielen, sagen, dass die Leute schon lange und sehr viel über die WM reden und die Vorfreude enorm ist. Die Mannschaft muss bei dem Turnier wie eine Familie zusammenwachsen, von Nummer eins bis 23 mit dem ganzen Staff und den Trainern. Nur so kann man erfolgreich sein. Das hat man auch bei Deutschland 2006 gesehen.
Ist die WM auch eine Chance für das Land, ein anderes, ein positiveres Bild zu vermitteln, als es das Russland ansonsten mit seiner Politik tut?
Politik hat mit Fußball nichts zu tun. Und die Leute, die noch nie in Russland waren, können sich auch kein Urteil erlauben. Es leben sehr, sehr nette Menschen dort, die sich Freude, dass Besucher aus der ganzen Welt kommen und die ihr Land von der besten Seite zeigen wollen. Die Politik sollte da in den Hintergrund gestellt werden und die Leute dieses Fußballfest in Russland genießen.
Roman Neustädter: Putin in der Kabine? "Ich kann es mir vorstellen"
Sie spielen seit 2016 für Fenerbahce Istanbul. Bestätigen Sie Ihre Erfahrungen dort in dieser positiven Einstellung?
Ja, ich fühle mich mehr als wohl und mehr als sicher dort. Von den ganzen Dingen, die in der Politik passieren, bekomme ich im alltäglichen Leben nichts mit und sehe jeden Tag Menschen, die sehr lebensfroh und hilfsbereit sind, die sich Freude, wenn man etwas von ihrer Kultur kennenlernen will, ihre Sprache spricht. Das sind Menschen, die positive Energie verbreiten und sich Freude, wenn andere in ihr Land kommen.
Glauben Sie, dass Russlands Präsident Wladimir Putin mal in der Kabine vorbeischauen wird, ähnlich wie das Bundeskanzlerin Angela Merkel beim DFB-Team tut?
Ich weiß nicht, ob in der Richtung etwas geplant ist, kann mir aber schon vorstellen, dass er das machen wird.
Wo steht Russland aus sportlicher Sicht bei der WM?
Das weiß man nie so richtig bis zum ersten Spiel. Russland muss als Mannschaft gut funktionieren. Sie spielen zu Hause, haben das ganze Land im Rücken. Es wird wichtig sein, das Auftaktspiel zu gewinnen, damit dadurch noch mehr Euphorie aufkommt und die Menschen in Russland an das Team glauben. Nur zusammen kann etwas Großes entstehen.
Trauen Sie dem DFB-Team, für das sie ja auch zwei Freundschafts-Länderspiele absolviert haben, die Titelverteidigung zu?
Deutschland gehört für mich immer zu den Titelfavoriten. Wir alle wissen, wie gut sie sind und wozu sie bei großen Turnieren fähig sind. Da ist Deutschland immer da. Mit ihnen ist auf jeden Fall zu rechnen. Im deutschen Team gibt es nicht den einen Star wie bei Brasilien oder Argentinien. Sie arbeiten im Verbund zusammen und haben darüber hinaus extrem gute individuelle Spieler.
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