Von Sängern und Stänkerern

24 Partien sind gespielt, bleiben noch sieben: die K.o.-Runde geht heute los. Zeit für eine Vorrunden-Bilanz.
DER SPORT: Von Uefa-Präsident Michel Platini kann man halten, was man will, aber in einem Punkt ist ihm kaum zu widersprechen: „Wir sehen guten Fußball“, meinte der streitbare Franzose zum Niveau dieser EM. 60 Tore in 24 Gruppenspielen: ein Schnitt von 2,5 Toren. Das torreichste Turnier war die EM 2000 in Belgien und den Niederlanden mit 85 Treffer (Schnitt: 2,74). Zudem gab es noch kein 0:0 – Premiere, seit 1996 erstmals mit 16 Teams gespielt wurde. Und: In allen Gruppen war es spannend bis zur letzten Minute; selbst Favoriten wie Spanien und Deutschland drohte das Aus. Nun stehen doch die Top-6 der Uefa-Fünfjahreswertung im Viertelfinale. Das rasanteste Spiel boten Spanien und Italien. In punkto Taktik fielen auf: die „falsche Neun“ der Spanier und Italiens Abkehr vom Catenaccio zugunsten einer flexiblen Dreier- bis Fünfer-Kette. Die auffälligsten Stars: Mario Gomez, „die Tormaschine“ (Löw), Comebacker Wayne Rooney (kam, sah und siegte), „der Geölte“ (ARD-Mann Opdenhövel) Spätstarter Cristiano Ronaldo und die zu früh gescheiterten Volkshelden Schewtschenko, Ibrahimovic und Blaszczykowski.
DIE FANS: Selten gab es einen eindeutigeren Sieger der Wertung „Fans der Herzen“: 20 000 Iren sorgten beim 0:4 ihres Teams gegen Spanien für kollektive Gänsehaut und brachten selbst ARD-Stimmungskanone Tom Bartels zum Schweigen. Die Folk-Ballade „The Fields of Athenry“ über die Hungersnot der 1840er-Jahre rührte Millionen. Dass das Team von Giovanni Trapattoni keinen Punkt holte, nur ein Tor schoss, aber neun kassierte – who cares? Die Kunst der Ironie wiesen die Iren per Plakat nach: „Bundeskanzlerin Angela Merkel Thinks We’re At Work“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel glaubt, wir sind bei der Arbeit). Minuspunkte gab’s für russische und kroatische Anhänger. Die Uefa verurteilte Kroatiens Verband wegen des Fehlverhaltens seiner Fans zu 125000 Euro Geldstrafe. Nach den Schlägereien beim Risikospiel Polen gegen Russland muss der Verband der Sbornaja gar den Abzug von sechs Punkten in der nächsten EM-Qualifikation fürchten.
DIE SCHIEDSRICHTER: Am ersten spielfreien Tag zog auch Uefa-Referee-Chef Pierluigi Collina Bilanz: Acht Schiedsrichterteams bleiben im Turnier, vier müssen abreisen. Im Großen und Ganzen waren die Leistungen der Unparteiischen in Ordnung, doch ausgerechnet am letzten, entscheidenden Spieltag gab es Kritik – auch am deutschen Schiedsrichter Wolfgang Stark. Der übersah in der Partie Spanien gegen Kroatien ein elfmeterreifes Foul von Sergio Ramos an Mandzukic. Am Tag darauf gab der Viktor Kassai ein klares Tor der Ukrainer gegen England nicht – sein Torrichter hatte nicht erkannt, dass der Ball klar hinter der Linie war. Folge: die nächste Debatte zum Thema ,Moderne Technik im Profi-Fußball’.
DAS FERNSEHEN: Was die Quote angeht, können sich ARD und ZDF nicht beschweren: Die 20 Übertragungen der Vorrunde sahen im Schnitt 13,32 Millionen Menschen, Marktanteil: 47,8 Prozent. Der erfolgreichste Abend war mit 27,65 Millionen Zuschauern das 2:1 des DFB-Teams gegen Dänemark. Negativ-Schlagzeilen produzierten die Expertenteams um Oli und Scholli. Schade, dass Chef-Zyniker Harald Schmidt außer Dienst ist. Ihm wäre es ein Fest gewesen, die Auftritte der Duos Scholl/Beckmann und Kahn/Müller-Hohenstein aufs Korn zu nehmen. Daumen runter auch für die Uefa. Joachim Löw löste mit seinem Balljungen-Scherz unfreiwillig eine Debatte aus, die ein bezeichnendes Licht auf die Praktiken des allmächtigen Fußballverbands warf. Vorwürfe der Manipulation und Zensur konterte er mit Schweigen. ARD und ZDF? Zuckten mit den Schultern.
DER VERLIERER: Zerstritten, zerfahren, zerknirscht: So präsentierte sich der Null-Punkte-Vize-Weltmeister Holland. Am zerknirschtesten: Dauerverlierer Arjen Robben. Seine Bilanz: nix getroffen, rumgemotzt, noch mehr Sympathien verloren.