Reporter-Legende über die WM 2018 und das deutsche Ausscheiden: Hartmut Scherzer: "Der Flug kostete 1962 fast so viel wie ein VW Käfer"
München - Der 80-jährige AZ-Reporter war in Russland bei seinen 15. Weltmeisterschaften als Reporter vor Ort.
AZ: Herr Scherzer, die WM in Russland ist das 15. Turnier, von dem Sie als Reporter über die deutsche Nationalelf berichten – das ist Weltrekord, kein anderer Journalisten war so oft dabei. Am Tag vor dem Eröffnungsspiel haben Sie Ihren 80. Geburtstag gefeiert.
HARTMUT SCHERZER: Mir macht es immer noch Spaß, ich bin mit Begeisterung dabei – und darf mich zum Glück bester Gesundheit erfreuen. Also nichts wie hin. Mein englischer Kollege David Miller war bei 14 Weltmeisterschaften seit 1958 akkreditiert, er fehlte aber schon in Brasilien.
Wie erleben Sie die WM in Russland?
Die Atmosphäre in den Stadien ist ähnlich wie überall auf der Welt seit dem Sommermärchen 2006 mit dieser bunten, fröhlichen Fan-Folklore. Ich habe erwartet, dass Putin ein weltoffener Gastgeber sein wird, der die Menschen und die Ordnungshüter in den WM-Städten zu Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit und Sauberkeit angehalten hat. Schon beeindruckend.
Und wie ist das Turnier aus Ihrer Sicht organisiert?
Organisation und Logistik funktionieren reibungslos, wie in autokratischen Ländern üblich – anders als zuletzt in Südafrika oder Brasilien. Kein Vergleich zu früher, zu den Turnieren vor der Digitalisierung.
Erinnerungen an 1962: So war Scherzers erste WM
Uwe Seeler war 1962 bei der WM in Chile als Mittelstürmer dabei. Für Sie war es das erste Turnier überhaupt, mit gerade 23 Jahren. Wie kam’s dazu?
Ich arbeitete seit dem 1. April 1960 in Frankfurt für die US-amerikanische Nachrichtenagentur United Press International, zunächst im Inlandsdienst. Doch ich wollte in die Welt hinaus, musste dafür lernen, auf Englisch zu schreiben, was ich mir selbst beigebracht habe. Dann wurde ich für die WM in Chile auserwählt. Eine große Chance für mich, ich musste gute Arbeit liefern. Was war ich aufgeregt! Ein großes Abenteuer! Der Flug mit der Nationalelf von Frankfurt aus nach Santiago kostete damals fast so viel wie ein VW Käfer: 3.700 Mark. Das konnte sich kaum eine Redaktion leisten, insgesamt waren nur rund 15 Journalisten aus Deutschland mit in Chile. Für UPI reisten außer mir der Büroleiter aus Wien und ein Fotograf aus Frankfurt mit. Allein die Anreise war ein Abenteuer. Mit einigen Zwischenstopps. Wir mussten in Dakar zwischenlanden, um aufzutanken. Dann ging es nach Buenos Aires und von dort nach Cordoba. Der Pilot ist extra eine Schleife über den Aconcagua geflogen, um uns Passagieren den höchsten Berg der Anden zu zeigen.
Wie haben Sie von Santiago aus gearbeitet damals?
Ich wohnte mitten im Zentrum. Die Mannschaft war etwas außerhalb in einer Kaserne untergebracht, der Militärschule "Escuela Militare General Bernardo O’Higgins". Die ummauerte Kaserne wurde von Soldaten mit Pickelhauben bewacht. Das mit der Abschottung ging also schon damals unter Bundestrainer Sepp Herberger los. Hinter den Kasernenmauern fand das Geheimtraining statt. Unser Fotograf hat sich eine Leiter besorgt und über die Mauer fotografiert. Die deutsche Mannschaft schied durch das 0:1 im Viertelfinale gegen Jugoslawien aus.
Was passierte mit Ihnen?
Ich war nicht wirklich enttäuscht, bin nach Peru geflogen, habe die legendäre Inka-Stadt Machu Picchu besichtigt. Mein Ticket für den Rückflug nach Deutschland hatte ich ja.
Ihre zweite WM war das Turnier 1966 in England und wird Ihnen aus gutem Grund immer in Erinnerung bleiben.
Richtig. Weil meine Tochter während des Turniers geboren wurde. Als ich abgereist bin, war meine Frau Barbara hochschwanger. Ich habe ihr einen Schwarz-Weiß-Fernseher gekauft, damit sie die WM-Spiele verfolgen konnte. Wir wussten nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, sie sagte jedoch: "Das wird ein Junge! So wie der da rumturnt, wie ein Boxer!"
Am 20. Juli arbeitete ich beim Spiel Deutschland gegen Spanien, in dem Lothar Emmerich dieses Sensationstor fast von der Eckfahne aus erzielte – was für ein Strich von Emma! Also forderten alle meine Kollegen: "Wenn es eine Tochter wird, musst du die Kleine Emma nennen!" Am nächsten Tag rief mich meine Mutter im Hotel an, gab mir die Nummer von Barbara im Krankenhaus. Ich versuchte es, sie hob tatsächlich ab und sagte: "Es ist ein Mädchen!" Ich antwortete nur: "Ich bin glücklich!" Wir hatten uns Marcel als Namen für einen Jungen überlegt. Ich sagte zu meiner Frau: "Gib’ mir eine halbe Stunde, ich lege mich in die Badewanne und lass’ mir einen Namen einfallen." Ich nannte meine Tochter nach der französischen Eiskunstläuferin Nicole Hassler. Später meinte meine Tochter: "Wehe, Papa, wenn du mich Emma genannt hättest!"
Wie sieht Ihr Ranking der bisherigen 14 erlebten Weltmeisterschaften aus?
Die schönste war 1970 in Mexiko. Allein dieses Provinz-Flair in der Stadt León. Der DFB residierte außerhalb in einer Golfhotelanlage, Comanjilla, wo die Journalisten mit Helmut Schön und Spielern am Swimming-Pool reden konnten und Zeuge wurden, wie Spaßmacher Max Lorenz den Bundestrainer in voller Montur ins Wasser warf. Ich liebe Mexiko, das Land, die Musik, das Essen. Ich war schon 1968 zu den Olympischen Spielen als Reporter dort und 1986 zur zweiten Fußball-WM. Aber die Spiele von 1970 wirken am längsten nach.
Was zur nächsten Frage führt: Ihr größtes WM-Spiel?
Das Jahrhundertspiel, das Halbfinale 1970 in Mexico-City gegen Italien, als Deutschland in der Verlängerung mit 3:4 verlor. Es ging hin und her in der völlig verrückten Verlängerung, mit Franz Beckenbauer, der wie ein verwundeter Feldherr den Arm in der Schlinge trug. Welch’ ein Drama, angepfiffen in der Mittagshitze.
So enttäuschend war die deutsche WM-Leistung 2018
Das schaurigste WM-Spiel?
Die Schande von Gijón, als Deutschland und Österreich sich im letzten Gruppenspiel 1982 auf ein 1:0 verständigten, um gemeinsam weiterzukommen und damit Algerien rauszukicken – das schändlichste Spiel, das ich je miterlebt habe.
Nicht das aktuelle Aus, das 0:2 gegen Südkorea?
Dieses Spiel war das schwärzeste und enttäuschendste deutsche Spiel der WM-Geschichte. Ich hatte auf den Trip nach Kasan verzichtet und sah die Partie im Mediencenter des Moskauer Spartak-Stadions vor dem Spiel Brasilien gegen Serbien. Unglaublich...