Reporter-Legende Hartmut Scherzer: Von Königen und Kaisern bei der WM 1974
Es gibt Legenden des Sports und es gibt Ikonen des Sport-Journalismus. Eine davon ist ohne jeden Zweifel Hartmut Scherzer (82). Der langjährige Mitarbeiter der AZ nahm an 15 Fußball-Weltmeisterschaften (Weltrekord) und 21 Olympischen Spielen teil.
Exklusiv für die Abendzeitung erinnert sich der Zeit- und Augenzeuge an die drei Fußball-Megaevents, die auch in München stattfanden – die WM 1974, die EM 1988 und die WM 2006.
1974: Das Duell zwischen Kaiser und König
Die Deutschen huldigten ihrem "Kaiser", die Holländer ihrem "Koning". Im Grunde war das erregend spannende Endspiel im Münchner Olympiastadion am 7. Juli 1974 ein Duell zwischen Franz Beckenbauer und Johan Cruyff. Die beiden Superstars dirigierten ihre Teams und übertrugen dabei ihre eigenen Empfindungen auf das Team.
So wie von Anbeginn dieser zehnten Weltmeisterschaft. Die Deutschen quälten sich kämpferisch durch die beiden Finalrunden mit der 0:1-Niederlage gegen die DDR als absoluten Tiefpunkt der sechs Spiele. Beckenbauer, 28 Jahre alt, fühlte sich an der Seite von Bundestrainer Helmut Schön zum Krisenmanager berufen und nahm erstmals in seiner Karriere Einfluss auf die Führung und personelle Gestaltung der Mannschaft.
Die Holländer stürmten mit eleganter Leichtigkeit durch die beiden Gruppenphasen. Es waren Festspiele in Oranje. Unter der genialen Führung von "König" Johan besiegten die Niederlande den Titelverteidiger Brasilien 2:0 (Pelé war zurückgetreten) und Argentinien 4:0.
Es gab von München bis Amsterdam keine Zweifel: Dieses brillante Oranje-Ensemble des Haudegen Rinus Michels ist der Favorit.
DFB-Elf: Auf einmal kam Stimmung auf
Auf einmal kam Stimmung auf. Nach drei Wochen kühler, nüchterner, mitunter enttäuschender Betrachtung der ersten WM in ihrem Land identifizierten sich sechzig Millionen Menschen mit elf jungen Männern. Das packende Finale des Europameisters gegen den Nachbarn Niederlande löste erstmals nationale Begeisterung aus. 80.000 Zuschauer feierten nach dem mit leidenschaftlicher Kampfmoral errungenen 2:1-Sieg die Weltmeister als nationale Helden. Exakt zwanzig Jahre nach dem "Wunder von Bern".
Was für eine Dramaturgie: Den Anpfiff des englischen Schiedsrichters John Taylor noch in den Ohren, zog Uli Hoeneß gegen Cruyff die "Notbremse". Johan Neeskens verwandelte den Elfmeter. Ein Strafstoß von Paul Breitner führte zum Ausgleich.
Drei Holländer gegen Hölzenbein
Drei Holländer hatten Bernd Hölzenbein nicht stoppen können. Da fuhr Wim Jansen die Grätsche aus. Der "Abflug" des Frankfurters ist als "Schwalbe" zur fast genauso umstrittenen Legende geworden wie das "Wembley-Tor". Gerd Müller schoss nach einem Bonhof-Pass das 2:1 kurz vor der Pause mit seiner kurzen, berühmten Drehung flach ins lange Eck. In der zweiten Halbzeit stürmte nur noch Holland.

Dass die deutsche Mannschaft den Vorsprung bis ins Ziel rettete, verdankte sie ihrer unermüdlichen Kampfmoral, einer Portion Glück, Prachtparaden Sepp Maiers und Beckenbauers Souveränität, mit der er bei aller Turbulenz in seinem Strafraum Ruhe und Sicherheit ausstrahlte. Aus holländischer Sicht führte das "Drama Cruyff" ("De Telegraaf") zur Niederlage der besseren Mannschaft: "Prädestiniert als der tatsächlich beste Spieler dieses Turniers gekrönt zu werden, wurde Cruyff von Vogts schachmatt gesetzt."
Macher setzen Schauspiel durch
Der Sieger des Duells der Giganten: "Franz Beckenbauer hatte diese Mannschaft dirigiert", schrieb der Publizist Ulfert Schröder in Fritz Walters WM-Buch '74. "Ohne Beckenbauer hätte die deutsche Elf ihr Ziel nicht erreicht, mit Beckenbauer schaffte sie es, nicht mit Glanz, aber jener inneren Glut, die entzündet wurde, als schon alles verloren schien. Am Ende, als es um den Titel ging, passte alles zusammen in der deutschen Mannschaft."
Es sei zweifellos Beckenbauers Entscheidung gewesen, dass nach Günter Netzers zwanzigminütigem Auftritt gegen die DDR dessen "Uhr endgültig abgelaufen war". Die tragische Figur empfand die Tribünen-Verbannung als tiefe Demütigung: "Das ist furchtbar. Niemand kann sich vorstellen, wie ich gelitten habe."
Fernsehen total, Werbung total, Kommerz total, Sicherheit total prägten diese vierwöchige WM. Die Macher hatten ihr Schauspiel durchsetzt mit Polizisten, Soldaten, Grenzschützern GSG-9-Beamten, Geheimdienstlern.
Kontrollen allerorten. Das Alibi lieferte das Blutbad bei den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor in München und die angebliche Bedrohung auch dieses Spektakels durch Terroristen. Der Fußball-Fan musste schon sehr dickhäutig sein, um in einem Stadion, in dem es mehr Pistolen als Bratwürste gab, wahre Freude zu finden.

60.000 Mark Titelprämie für die Spieler
Die Mannschaften lebten hermetisch abgeriegelt hinter Zäunen, Bretterwänden, Sperrgittern, Polizei-Kordons und verrammelten Hoteltüren. Dahinter wurde ums Geld gefeilscht.
Beckenbauer forderte 100.000 Mark für jeden Spieler bei Titelgewinn, DFB-Präsident Hermann Neuberger bot 30.000 Mark. Die Spieler drohten mit Abreise. Man einigte sich schließlich auf 60.000 Mark Titelprämie.
Dem Triumph auf dem Rasen folgte der Eklat im Festsaal: In der Männer-Welt des DFB mussten die Spielerfrauen beim Bankett draußen bleiben. Die Elf des Weltmeisters zerbrach in jenem Augenblick, da sie geboren wurde. Gerd Müller verkündete im Qualm einer dicken Zigarre seinen Rücktritt aus der Nationalelf. Wolfgang Overath und Jürgen Grabowski - an seinem 30. Geburtstag - folgten ihm noch am selben Abend.

Für den Tag nach dem Triumph war ein Empfang am Frankfurter Römer angesetzt. Rund 10.000 Menschen wollten die Weltmeister feiern. Doch die sechs Münchner Beckenbauer, Maier, Schwarzenbeck, Breitner, Hoeneß, Müller hatten keine Lust und blieben zu Hause. Auch die drei Westdeutschen Vogts, Bonhof, Overath wollten nichts wie heim. So kam es, dass nur zwei Spieler auf dem Rathausbalkon der jubelnden Menge zuwinkten: Grabowski und Hölzenbein.
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