„Ich genieße die Zeit, die ich habe“

Neu-Trainer Jörg Berger soll Arminia Bielefeld retten. Hier spricht er über seine Flucht aus der DDR und seine Krebserkrankung.
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Neu-Trainer Jörg Berger soll Arminia Bielefeld retten. Hier spricht er über seine Flucht aus der DDR und seine Krebserkrankung.

BIELEFELD Am Dienstag sicherte sich Arminia Bielefeld die Dienste von Jörg Berger, dem Feuerwehrmann der Liga, um den Absturz in die Zweitklassigkeit zu vermeiden. Der Sachse rettete den FC Köln, Schalke 04 und Eintracht Frankfurt vor dem Abstieg. Kurz vor seinem Engagement sprach die AZ mit Berger über sein bewegtes Leben.

AZ: Herr Berger, gut 20 Jahre nach dem Mauerfall, 30 Jahre nach Ihrer Flucht aus dem Osten haben Sie Ihre Autobiographie „Meine zwei Halbzeiten" herausgebracht. Wie sieht Ihre Bilanz von 20 Jahre vereintes Deutschland aus? Sind wir ein Volk?

JÖRG BERGER: Nein, wir sind verschiedene Deutsche. Immer noch. Ich verstehe viele der Emotionen, denn man hat den Menschen im Osten bei der Wiedervereinigung viel mehr versprochen als sie heute haben. Was ich nicht verstehe ist, dass Dinge verklärt werden, die nichts Verklärungswürdiges haben.

Es hat sogar eine gewisse DDR-Nostalgie eingesetzt.

Ja, ich sage auch, wenn ich an die DDR denke, sind da viele schöne Erinnerungen, an die Kindheit, den Sport. Aber man soll doch bitte nicht all die negativen Dinge vergessen. Es gab keine Redefreiheit, keine Reisefreiheit, keine Pressefreiheit. Die Mauer ist nicht gefallen, weil das alles Gutmenschen waren, sondern weil das System ideologisch und materiell kaputt, innerlich verfault war. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie das nicht mehr ausgehalten haben. Das ist die Realität. Selbst im engsten Familien- und Freundeskreis konnte man nicht sicher sein, ob man nicht überwacht wurde.

Zwei Ihrer Freunde haben Sie jahrelang überwacht.

Ja, als ich meine Stasi-Akten eingesehen habe, musste ich mich erst einmal übergeben. Das waren Freunde, die mich ausspioniert haben!

Können Sie diesen Menschen – einer davon ist ja der ehemalige DDR-Nationaltrainer Bernd Stange – verzeihen?

Ich war bereit, ihnen zu verzeihen. Wenn sie das Gespräch gesucht hätten, aber sie haben nie ihr Bedauern ausgedrückt. Sie haben sich nie in der Täterrolle gesehen.

Stange hat Karriere gemacht. Er war Nationaltrainer der DDR, später im Irak, nun in Weißrussland.

So ist sein Charakter. DDR, dann der Irak, nun Weißrussland, die letzte Diktatur Europas. In Diktaturen, da fühlt er sich offenbar wohl.

Wenn man Ihre Biographie so liest, scheint Ihre Flucht weniger politisch motiviert gewesen zu sein als persönlich.

Das fasst es perfekt zusammen. Als man mich zwingen wollte, wieder zu heiraten, war das ein Schlüsselerlebnis. Da entschied ich mich zu flüchten. Zum Glück wusste ich da nicht alles, was ich heute aus den Stasi-Akten weiß, wie sehr ich überwacht war. Wenn ich alles gewusst hätte, hätte ich vielleicht nicht den Mut aufgebracht, zu flüchten. Man darf nie vergessen: Wir werden nie die ganze Wahrheit über die Stasi-Aktivitäten erfahren. Die hatten genug Zeit alle die Dokumente über die kriminellen Handlungen, die Verbrechen, die Todesfälle, zu vernichten.

Daher ist der mysteriöse Unfalltod eines anderen „Republikflüchtlings, Lutz Eigendorf, auch weiter ungeklärt.

Ja, alle Indizien sprechen dafür, dass es kein Unfall war. Aber den hundertprozentigen Beweis gibt es nicht. Da hat man im Westen leider nie intensiv nachgefragt. Vielleicht wollte man das nicht, um die deutsch-deutschen Beziehungen nicht zu gefährden. Aber ich wusste viel. Im Osten konnte ich es nicht sagen, und im Westen hat es keiner geglaubt. Ich musste also sozusagen zwei Mal schweigen. Aber es ist viel vorgefallen.

Etwa Ihre Blei/Arsenvergiftung, die Sie auf die Stasi zurückführen. Besteht ein Zusammenhang zwischen der Vergiftung und Ihren schweren Krebserkrankungen?

Es gibt Mediziner, die das so sehen. Aber jeder, der das sagt, weiß, dass er es nicht beweisen kann. Ich bin kein Mensch, der zurückschaut, sondern positiv nach vorne. Ja, ich habe den Krebs in mir, aber ich bin mir sicher, dass ich noch viele Jahrzehnte leben werde. Mir geht’s viel besser als etwa vor einem Jahr. Ich genieße die Zeit, die ich habe, und ich denke, ich habe noch sehr viel Zeit.

Woher nehmen Sie die Kraft, all die Rückschläge, die Schmerzen, die Chemotherapien immer wieder wegzustecken? Sie wirken wie ein Mensch, der Mitleid ablehnt.

Mein Lebensmut stammt aus meiner Liebe fürs Leben. Mitleid, damit kann ich nichts anfangen.

Interview: Matthias Kerber

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