Held statt Maskottchen
Der ungläubige Andrej Schewtschenko fühlt sich zehn Jahre jünger und sein geplagtes Land plötzlich in einem Fußball-Hochgefühl
KIEW Am Tag danach strahlte Grigorij Surkis glückselig. Der 62-jährige Präsident des ukrainischen Fußballverbandes gilt als Vater dieser mit Polen veranstalteten EM, Bruder Igor steht Dynamo Kiew vor, wo Andrej Schewtschenko gerade seine Karriere ausklingen lässt. Die Surkis-Brüder als Ideengeber und Schewtschenko als Idol haben viele Visionen mit dieser EM verbunden. Dass sie gleich zum Auftakt je eine Märchengeschichte erzählen durften, hat niemand ahnen können.
Erst recht nicht der Held selbst. „Ich konnte nur träumen, was geschah. Ich kann es nicht glauben", sagte der 35-jährige Schewtschenko in dieser magischen Nacht. Zuvor war „Sheva" wegen seiner Rolle als EM-Botschafter als drittes Maskottchen neben „Slavek und Slavko" verspottet worden, nun führte ihn die Uefa nach seinen beiden Kopfballtoren beim 2:1 gegen Schweden offiziell als Matchwinner. Neben ihm grinste der vermeintliche Grantler Oleg Blochin, weil es der ukrainische Nationaltrainer ja gewusst hatte: „Andrej hat es nicht geglaubt. Ich hatte den Traum, dass er zweimal trifft." Das Pathos hatte in diesem Moment seine Berechtigung.
Als mit Blochin und Schewtschenko die Legenden aus Vergangenheit und Gegenwart miteinander tanzten, schienen sich zwei Brüder im Geiste für immer zu verbünden. Beide sind im sowjetischen Sportsystem sozialisiert; sie kennen die Körperertüchtigung der Sportschule von Dynamo Kiew; ihre Konterfeis hängen an vielen Ecken des alten Walterij-Lobanowski-Stadions. Europas einstiger Fußballer des Jahres Blochin war seiner inneren Überzeugung gefolgt: Der 59-Jährige hatte dem Weltbürger Schewtschenko etwas zugetraut, woran der nicht mehr geglaubt hatte. „Ich hatte Probleme mit dem Knie, dem Rücken, aber jetzt fühle ich mich zehn Jahre jünger." Er scheint einen Jungbrunnen entdeckt zu haben.
Oder sind höhere Mächte im Spiel? Blochin war während der zweiten Halbzeit von einem Assistenztrainer geflüstert worden, dass die Zeit für ein historisches Ereignis gekommen sei. Als in Kiew noch keine Hightech-Membran-Konstruktion das Stadion überspannte, hat der einst weltbeste Linksaußen meist getroffen, „wenn wir auf das Tor zum Bessarabska Square gespielt haben", ein Platz in südwestlicher Richtung des Prachtboulevards Kretschatik. „Es war Zeit, dieses Tor wieder zu öffnen", sagte Blochin, der den Spielern am Dienstag einen Familientag spendierte. Schewtschenko verbrachte ihn mit seiner schwangeren Frau Kristen Pazifik und den Söhnen Jordan und Christian, die auf der Tribüne des Olympiastadion gesessen hatten.
In der Nacht ertönten wilde Hupkonzerte und „Ukraina, Ukraina"-Rufe. In der Fanzone am Unabhängigkeitsplatz spielten sich Freudenszenen ab, die auch auf der Straße des 17. Juni in Berlin nicht anders aussahen. Die Zeitung „Segodna” zeigte den exaltiert jubelnden Schewtschenko. Vergessen die Episode, als er kürzlich ein Ligaspiel ausließ, um an den nationalen Golfmeisterschaften teilzunehmen.
Für die Gruppenspiele gegen Frankreich und England wird die Begeisterung nun befeuert, wovon auch die Politik profitieren will. Der von der Regierung Viktor Janukowitsch als EM-Beauftragter eingesetzte Boris Kolesnikow, der bereits kräftig am Turnier mitverdient hat, nahm zuletzt neben dem Verbandspräsidenten Platz. Janukowitsch hatte nach dem Schlusspfiff den werbewirksamen Weg in die Kabine gesucht. Und Surkis stellte nun am Dienstag mit breiter Brust fest: „Unser Land ist in der Lage, eine tolle Atmosphäre zu kreieren." Sie alle wollen ein bisschen von dem Glanz erheischen, den Andrej Schewtschenko der Ukraine aus heiterem Himmel gebracht hat.
- Themen:
- UEFA