„Endlich wieder pöbeln“
Als ARD-Experte ist Günter Netzer abgetreten. Aber er sagt weiter seine Meinung zur Nationalmannschaft, gern auch deutlicher als früher im Fernsehen – so wie in diesem Interview
AZ: Herr Netzer, schauen Sie sich nach Ihrem Ausscheiden bei der ARD die DFB-Länderspiele im Fernsehen überhaupt noch an?
GÜNTER NETZER: Ja, natürlich.
Und? Spüren Sie schon Entzugserscheinungen?
Nein. Ich war selbst gespannt auf mich, wie ich darauf reagiere. Aber es ist keineswegs so, dass ich Entzugserscheinungen habe. Das wusste ich aber auch vorher. Ich habe es mit anderen Augen gesehen. Beckmann, Scholl, das ist ein Vergnügen. Der Mehmet macht das ganz hervorragend. Ich für mich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, dies nach zwölf Jahren zu beenden. Es war für mich klar, dass ich nicht darunter leiden werde.
Können Sie Fußball jetzt wieder mehr genießen?
Ja, natürlich. Mir gelingt es sogar manchmal, nicht aufzupassen.
Aber der Experte dringt vor dem Bildschirm vermutlich schon noch durch.
Natürlich, das kann man nicht ausschalten. Mein Leben ist und bleibt der Fußball, das wird sich nie ändern. Und natürlich ertappe ich mich dabei, dass ich mich selbst manchmal frage: So, was würdest du da jetzt im Fernsehen sagen?
Gut. Was würden Sie denn dann im aktuellen Fall zur K-Frage sagen?
Der Löw hat das bravourös geregelt. Der Michael Ballack muss sich unverzichtbar machen. Der muss fit in die Mannschaft hineinkommen, und wenn er hineinkommt, dann ist er der Kapitän. Es ist ja nichts passiert, außer dass die Mannschaft sich bei der Weltmeisterschaft enorm entwickelt und einen großen Schritt in die Selbstständigkeit gemacht hat.
Auch weil Lahm gute Führungsqualitäten zeigte.
Da war der Lahm eine sehr wichtige Figur. Löw hat da sehr stilvoll reagiert, als er sagte: Wenn Ballack fit ist, kriegt er die Position, die er gehabt hat. Aber es wird erst einmal schwer genug, in die Mannschaft zurückzukommen, und wenn ihm das nicht gelingt, dann wird Lahm der Kapitän sein.
Fürsprecher von Ballack verweisen gerne auf dessen große Verdienste um den deutschen Fußball.
Darauf kann er sich nicht berufen. Ballack sagte ja schon einmal bei einem Länderspiel vor etwa eineinhalb Jahren, er müsse niemandem mehr etwas beweisen. Da habe ich ihn damals schon vor der Kamera korrigiert und gesagt, dass er da einem ganz großen Irrtum unterliegt. Der muss sich Tag für Tag beweisen. Sich auf Verdiensten auszuruhen, das kann sich keiner erlauben, die Vergangenheit zählt nichts mehr, die jungen Leute drängen ja immer mehr nach. Das kann sich ein Trainer auch gar nicht erlauben, die Leistung muss erbracht werden, das ist das Allerwichtigste. Da hat sich in meiner Ansicht nichts geändert.
Da spricht der Analyst Netzer – und jetzt auch wieder der Fan Netzer.
Fan bin ich ja immer geblieben. Ich musste das nur immer etwas reduzieren, bei der Arbeit in ein richtiges Maß bringen. Aber jetzt kann ich ja endlich wieder pöbeln.
Interview: Florian Kinast
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