Das sagt Sir Peter Jonas im WM-Gespräch über das englische Ausscheiden

Moskau - Sir Peter Jonas (71) war von 1993 bis 2006 Staatsintendant der Bayerischen Staatsoper. 1999 wurde der Engländer von Queen englische Queen zum Ritter geschlagen.
AZ: Sir Peter, das dramatische Aus der Engländer im WM-Halbfinale gegen Kroatien war auch eine sehr gelungene Inszenierung des Fußballgottes – oder was sagt der ehemalige Staatsintendant der Bayerischen Staatsoper?
SIR PETER JONAS: Was die Dramatik, die emotionale Einbindung angeht, war das fantastisch. Es war ein mitreißendes Fußballspiel zweier konträrer Mannschaften. Auf der einen Seite die jungen Wilden aus England, die mit Herzblut spielen, die ein Team sind, das man als Engländer sofort ins Herz schließen kann. Sie wissen, wir haben ja ein sehr merkwürdiges Verhältnis zur Nationalmannschaft. Schlicht, weil sie uns im letzten Vierteljahrhundert so viel angetan hat. Deswegen sind wir so leidenschaftlich, fast fanatisch auf der Vereinsebene, aber die Nationalmannschaft haben wir immer mit emotionalem Abstand gesehen. Weil wir wussten, was uns für Schmerzen sonst erwarten. Auf der anderen Seite stand diese kroatische Mannschaft. So klug, so strategisch, so diszipliniert, mit einzelnen Weltklassespielern. Es war toll.
Das heißt, Sie sind nicht zu Tode betrübt?
Das Ergebnis ist gerecht. Da ich größtenteils in der Schweiz lebe, fühle ich mich ein bisschen der Objektivität und Neutralität verpflichtet (lacht). Ich musste mir das Spiel sogar danach auf Video ansehen, weil meine Frau zu der Zeit einen Auftritt hatte und ich dabei sein musste. Aber ich hatte vorher schon ein bisschen auf dem Handy gespickt. Natürlich war ich enttäuscht. Aber auf der anderen Seite auch ein bisschen erleichtert.
Peter Jonas: "Es gibt eine sehr jugendliche Renaissance in England"
Das müssen Sie erklären!
Weil ich befürchtet habe, dass die radikalen Brexit-Befürworter ihre nationalistische Agenda noch weiter treiben würden, wenn England Weltmeister werden würde. Was zur Zeit in England abgeht, ist verantwortungslos. Der gerade zurückgetretene Außenminister Boris Johnson ist ein Mann ohne jedes Gewissen, der alles seinem persönlichen Vorteil opfert. Dass Leute wie er immer noch Anhänger haben können, ist mir ein Rätsel. Diese Männer sind gefährlich, nicht nur für England, sondern Europa. Und US-Präsident Donald Trump trägt diese Gefahr in die Welt. Deswegen hat die Niederlage zumindest ein bisschen Gutes.
Frust pur bei den englischen Spielern nach dem 1:2 gegen Kroatien. Foto: Xu Zijian/xinhua/dpa
Es bleibt also dabei: Die Royal Wedding zwischen Prinz Harry und Meghan Markle ist Englands Highlight des Jahres. Kaum vorstellbar, dass die Hochzeit eines Kindes von Bundeskanzlerin Angela Merkel – wenn sie welche hätte – solch eine Euphorie in Deutschland auslösen würde!
(lacht) Das ist für Außenstehende nur schwer zu verstehen. Wenn man sich aber mit der englischen Politik ein bisschen beschäftigt, weiß man, wie kompliziert sie ist, wie sehr voller Intrigen und Fallstricke. Dass wir so ein stabiles Königshaus haben, gibt uns eine Komfortzone. Prinz Harry und Meghan Markle haben mit ihrer sympathischen, authentischen Art nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen erobert. Das haben sie mit der englischen Fußballmannschaft gemein. Zudem verändern sie angestaubte Traditionen auf eine sehr subtile, aber gute Art. Es gibt eine sehr jugendliche Renaissance in England. Im Fußball, im Königshaus – wäre es doch nur auch so in der englischen Politik. (lacht)
Der Architekt dieser fußballerischen Renaissance ist Trainer Gareth Southgate.
Ich bin so stolz auf ihn. Sie wissen ja, ich bin glühender Anhänger von Crystal Palace. Er hat das ganze Jugendprogramm dort durchlaufen. Und er hat diesen Crystal-Palace-Ethos in sich. Den hat er auf die Mannschaft übertragen. Er ist wunderbar, er erinnert mich an die Figur des Simon Boccanegra aus der berühmten Verdi-Oper. Ein Mann, der seine Schwächen und Feinde kennt, aber sehr geschickt agiert und in der Lage ist, das Beste daraus zu machen. Er hat mit seiner Art den englischen Fußball revolutioniert. Etwas, was Deutschland auch braucht.
Peter Jonas: "Traue den Kroaten den großen Triumph zu"
Wie empfanden Sie das Aus der deutschen Elf? Eine Art Götterdämmerung? Deutschland erinnert mich an den Zustand, in dem England lange war. Sie wirkten überheblich, zu selbstbewusst, aber gleichzeitig weltmüde. Ich denke, dass man neues Denken, neue Visionen braucht. Deutschland muss sich neu erfinden. Löw muss das. Der Neuanfang ist nicht so leicht wie in England. Unsere große Obsession mit Skandälchen und daraus etwas Riesiges aufzubauschen, macht es uns leicht. Bei uns verliert man für jeden Skandal seinen Job, selbst, wenn es eigentlich keiner ist. Aber ein Sex-Skandal führt in Deutschland nicht zur Entlassung. Ihr müsst euch was anderes einfallen lassen, um einen personellen Neuanfang zu schaffen.
Das Finale bestreiten jetzt Frankreich und Kroatien.
Ich muss zugeben, ich habe etwas Probleme mit der französischen Spielweise. Sie ist destruktiv, sehr defensiv. Ich habe nichts gegen Defensive, weil sie immer der Auftakt sein kann, um mit Kontern einen Angriff zu starten. Aber mir gefällt die Moral der Mannschaft nicht. Sie haben sich reformiert, aber ich denke, dass immer noch Teile des Kerns vorhanden sind, der die Mannschaft bei ihrem Aufstand 2010 gegen den Trainer angetrieben hat. Ich kenne einen ehemaligen französischen Nationalspieler sehr gut, der meinte, dass die Mannschaft den Geist der gegenseitigen Zerstörung weiter in sich trage. Daher traue ich den Kroaten den großen Triumph zu.
Das wäre für Frankreich das zweite fußballerische Waterloo nach der Finalpleite 2016 bei der Heim-EM.
Absolut! Daran kann eine Mannschaft zerbrechen. Speziell, wenn sie solch eine Einstellung irgendwo in sich trägt. Wir Engländer wissen, wovon wir sprechen. Aber jetzt haben wir eine Mannschaft, auf die die ganze Nation stolz sein kann und die uns noch viel Freude machen wird.
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