Das Genie und der Wahnsinn
Andrea Pirlo
Andrea Pirlo ist Kopf, Herz und Seele der Azzurri. Löw hält ihn für „hervorragend, genial und gefährlich“.
Dieses Dribbling musste er verlieren. Der Schnellste war er ja noch nie und gegen diese Armada von Gegenspielern halfen auch keine Finten mehr. Andrea Pirlo war umzingelt von Dutzenden erwartungsvoller Augenpaare. Also blieb er stehen, holte aus seinem Reservoir unbeteiligt aussehender Gesichtsausdrücke das Nonchalanteste heraus und sagte mit seiner leisen, die Vokale betonenden und immer leicht rauen Stimme: „Ich habe gesehen, dass Hart komische Bewegungen macht, also hab’ ich mich umentschieden und es so gemacht. Es war der einfachere Schuss.“ Das saß. Diese Antwort hatten die Reporter nicht erwartet. Nicht nach diesem unfassbar lässigen cucchiaio, diesem Lupfer im Elfmeterschießen gegen England.
Und während die internationale Presseschar noch darüber nachdachte, was man diesem Satz sinnvolles entgegen setzen konnte, war Pirlo in seinem wie immer leicht um die Knie schlackernden Trainingsanzug schon davon geschlurft und im Bus verschwunden. Während Pirlos Karriere gab es immer Spieler, die spektakulärer, dominanter und schneller waren, die beliebter waren, mehr verdient haben und besser aussahen als er. Aber Pirlo ist ein Muster an Konstanz, ein Genie der Beiläufigkeit. Nationalspieler seit zehn Jahren und jede Saison weltklasse. 33 Jahre ist der Regisseur des italienischen Spiels mittlerweile alt, er spielt gerade das Turnier seines Lebens. Pirlo ist noch stärker als 2006, als er Weltmeister wurde und zum drittbesten Spieler des Turniers gewählt wurde, er ist noch wichtiger für das Spiel der Azzurri.
Jeden Akteur könnte Coach Cesare Prandelli irgendwie ersetzen, selbst die Ersatzmänner des Torwart-Giganten Gigi Buffon sind bärenstark. Aber ohne Pirlo wären die erfrischend kreativ und leidenschaftlich spielenden Azzurri höchstens noch blassblau. Dieser Mann, dessen Gesicht von einem klassizistischen Bildhauer gemeißelt scheint, dessen majestätisch schleppende Dribblings an die Arien von Giuseppe Verdi erinnern und der Pässe schlägt wie von Leonardo gemalt, ist Kopf, Herz und Seele der Squadra. Es war Buffon, der Kapitän, der die Azzurri vor dem Elfmeterschießen einpeitschte. Nachdem Riccardo Montolivo aber verschossen hatte, war es „l’architetto“, wie sie ihn nennen, der die Seinen mit einem Panenka-Gedächtnis-Elfer wieder aufrichtete.
Wenn Buffon, Antonio Cassano und Mario Balotelli die Vertreter des pathetischen und zum Chaos neigenden Italiener sind, dann sind Prandelli und Pirlo die Symbole des lässigen und liberalen Italiens. Pirlo ist der Spieler, vor dem die DFB-Elf sich am meisten Sorgen machen muss im Halbfinale. „Er erlebt eine Renaissance. Ein hervorragender Fußballer, genialer Stratege. Er spielt die Bälle gefährlich dorthin, wo es dem Gegner am meisten weh tut. Eine Manndeckung wäre sinnlos, weil er sich weit zurückfallen lässt. Wenn er mit dem Gesicht zum Tor steht, hebt er die Bälle über die Abwehr. Wir werden unsere Aufgaben so verteilen, dass wir ihn an seinem Spiel hindern können“, sagte Bundestrainer Jogi Löw gestern. Doch auch Löw weiß, dass dies bei dieser EM bisher niemandem gelungen ist.
Mario Balotelli
Stürmer Mario Balotelli ist unberechenbar – auf dem Platz, aber auch daneben. „Er möchte geliebt werden“.
Auf die Uefa ist Mario Balotelli nicht allzu gut zu sprechen. Der Fußballverband wollte den Stürmer mit dem blondiertem Hahnenkamm in einem Anflug sicherlich gut gemeinter Toleranz vor Turnierbeginn als Mario Barwuah Balotelli auf den Spielberichtsbögen führen. Aber mit den Barwuahs kann Balotelli recht wenig anfangen. „Ich bin Mario Balotelli. Basta“, er sei Italiener und überhaupt noch nie in Afrika gewesen, hat er der Uefa mitteilen lassen. Auf den Namens-Zusatz auf dem Trikot verzichte er gerne.
Die Barwuahs, das sind seine leiblichen Eltern Thomas und Rose und seine drei Geschwister, die einst aus Ghana nach Italien einwanderten. Mario ist das zweite Kind, er wurde in Palermo geboren und verbrachte seine ersten zwei Lebensjahre mit einer hartnäckigen Darm-Krankheit vor allem im Krankenhaus, ständig mit dem Tod ringend. Balotelli meidet seine leibliche Eltern, zur EM ließ er nur seine Geschwister einfliegen, darunter seine Schwester Abigail, im Stiefel leidlich bekannt geworden durch ihre Teilnahme beim italienischen Dschungelcamp. Balotelli glaubt, seine leiblichen Eltern hätten ihn mit 14 Monaten verlassen und sich selbst überlassen, Krankenschwestern und Nonnen hätten sich um ihn gekümmert, ehe ihn die Balotellis aufgenommen hätten. Thomas und Rose sagen, dass sie vom Jugendamt gezwungen worden seien, ihn zur Pflege zu geben.
Welche Version auch immer wahr ist, die Geschichte hilft möglicherweise, die unberechenbaren Aktionen des Mario Balotelli auf und neben des Platzes zu verstehen. In den zwei Jahren bei City sammelte er drei Rote Karten, bewarf Jugendspieler mit Dartpfeilen, machte Stadtrundfahrten mit Mafia-Bossen, wurde kurzzeitig verhaftet, als er seinen Maserati im Innenhof eines Frauengefängnisses parkte - angeblich wollte er eine befreundete Prostituierte besuchen - sprengte mit Feuerwerkskörpern sein Badezimmer in die Luft und betrog seine damalige Freundin mit einem Escort-Girl, das zuvor schon die Ehe von Wayne Rooney in eine ernst Beziehungskrise gestürzt hatte. Andererseits aber schoss er City zum Sieg im Derby gegen ManUnited, schoss 19 Tore in insgesamt 40 Spielen für die Citizens und führte den Klub mit zur ersten Meisterschaft nach Urzeiten. Und das alles mit 21 Jahren.
Bis heute wirkt er bisweilen wie ein traumatisiertes Kind, das meint, gegen die ganze Welt kämpfen zu müssen. „Ich habe keine Nutella im Arsch“, sagte er vor dem Spiel gegen England. Balotelli fühlt sich verfolgt – auch, weil ihm, der sich als ganz normaler Italiener fühlt, immer wieder die üble Fratze des Rassismus entgegenblickte. Bei der EM soll er mit einer Banane beworfen worden sein.
„Mario ist ein spezieller Typ. Einer, der sich nur schwer kritisieren lässt. Er möchte geliebt werden und kann nur sehr schwer mit Misserfolgen umgehen“, sagt Roberto Mancini, der ihn mit 17 bei Inter in der Serie A debütieren ließ und ihn vor zwei Jahren zu Manchester City holte. „Ich bin mir sicher, tief im Herzen ist Mario ein Goldjunge“, sagt Nationaltrainer Cesare Prandelli. Seine Adoptiveltern Silvia und Franco sind der gleichen Meinung, wenn er daheim in Brescia ist, begleitet Mario die beiden oft in die Sonntags-Messe.
Balotelli selbst bezeichnet sich als schüchtern, "ich bin mehr Mann als Peter Pan", sagte er jüngst außerdem. Sein erklärtes Ziel ist es, der beste Spieler der Welt zu werden. Besser als Messi, besser als Cristiano Ronaldo. Tatsächlich ist er ein begnadeter Fußballer, dem am Ball Dinge gelingen, die selbst Ronaldo nicht einfallen würden. Er ist austrainiert, verfügt über eine perfekter Körperbeherrschung, ist superschnell und, wenn er vor dem Tor nicht gerade einschläft wie im ersten EM-Spiel gegen Spanien, torgefährlich. Bei der EM präsentierte er sich auf dem Platz bisher brav, und als er nach seinem Treffer gegen Irland ausrasten wollte, hielt ihm sein Teamkollege Bonucci den Mund zu.
Wer es gut mit ihm meint, lässt ihn als letzten Rockstar des Fußballs durchgehen. Alle anderen halten ihn schlicht für irre. „Es hat großen Mut gebraucht, Mario mitzunehmen zur EM. Aber ich bin froh, es gemacht zu haben“, sagt Prandelli. Der Mann rockt.