427 Seiten, zwei Gesichter
Ein Jahr nach Robert Enke Selbstmord wollen Hannovers Profis das Thema ausblenden. Doch nun sorgt eine Biografie für Irritation.
HANNOVER Der Blick zurück ist verpönt. Wenn die Fußballprofis von Hannover 96 heute beim FC Bayern in ihre Rollen schlüpfen, sind viele froh, zumindest auf dem Platz der Erinnerung an die Trauer um Robert Enke entfliehen zu können. Elf Monate nach dem Suizid des Ex-Nationaltorhüters und 96-Kapitäns weckt vor allem ein Buch die Erinnerung an eine Tragödie. „Robert Enke – ein allzu kurzes Leben", heißt das im Piper-Verlag (19,95 Euro) erschienene Buch des Autors Ronald Reng.
Bei Hannover 96 ist man von der Vorstellung des Buches und dessen offensiver Vermarktung überrascht worden. „Uns hat keiner etwas gesagt. Und ich habe mich über die Art und Weise auch sehr gewundert", gesteht US-Nationalspieler Steven Cherundolo, als Kapitän Enkes Nachfolger. „Heute habe ich aber keine Angst mehr davor, dass die Mannschaft durch die Erinnerung und das Buch über Roberts Tod verunsichert werden könnte", versichert Cherundolo.
Fakt ist jedoch auch: Keiner der Spieler will mehr öffentlich über das Enke-Thema reden. Die Mannschaft hat sich einen Maulkorb auferlegt. „Wir wollen die Vergangenheit dort belassen, wo sie ist. Wir werden Robert nie vergessen, aber wir sind jetzt in einer neuen sportlichen Gegenwart", sagt Florian Fromlowitz, die neue Nr. 1 im Tor.
Präsident Martin Kind und Sportdirektor Jörg Schmadtke sind Sprachrohr des Vereins in Sahcen Enke-Verarbeitung. Schmadtke sagt: „Es ist normal, dass das Thema Enke wieder hochkommt.
Durch das Buch. Und durch den Jahrestag von Roberts Tod, der am 10. November alles wieder aufwühlt. Das Buch ist für meinen Geschmack sehr eindimensional. Es ist persönlich geschrieben, aber nur aus dem Blickwinkel von Robert.“
Der 427-seitige Blick zurück auf die wechselhafte und leidvolle Karriere von Enke, der sich von Depressionen geplagt im Alter von 32 Jahren vor einen Zug geworfen hat, geht hinter die Fassade eines für Außenstehende so erfolgreichen und bewundernswerten Fußballers. Enkes Vater Dirk, der in Jena zu DDR-Zeiten als Psychotherapeut gearbeitet hat, kommt dabei ins Spiel. Die Geschichte einer Jugend zwischen Plattenbauten wird erzählt, in der der Fußball für den kleinen Robert alles, aber auch eine Flucht ist. „Wärst Du mir böse, wenn ich aufhören würde", lässt der Autor seinen Protagonisten im Alter von 16 Jahren den Vater fragen. Möglich sind Passagen wie diese, weil Reng als Freund der Familie nach Absprache mit Witwe Teresa Enke aus den Tagebüchern ihres kranken Mannes zitieren durfte. So wird ein Bild von Enke nachgezeichnet, dessen wahres Ich nur wenige seiner Freunde und Kollegen kannten. „Robert hatte zwei Gesichter. Er hat nicht die Hand gereicht, damit wir ihm helfen können", findet Schmadtke.
Mit den Erinnerungen sind auch die Fragen danach verbunden, was sich im Fußball verändert hat. In vielen Reden war ein Umdenken gefordert worden. Was ist seitdem passiert? „Nichts", antwortet 96-Kapitän Cherundolo.
96-Klubchef Kind hat gerade erst bedauert, dass man im November 2009 für Enke eine Trauerfeier im Stadion mit Fernseh-Liveübertragung organisiert hat. „Heute würde ich empfehlen, einiges differenzierter zu machen", gesteht Kind.
Christian Otto