"Hier muss man am längsten auf einen Platz im Schwimmkurs warten": Schwere Vorwürfe von Schwimmstar van Almsick
AZ-Interview mit Franziska van Almsick. Die gebürtige Berlinerin (47) ist eine ehemalige Schwimmerin und mehrfache Welt- und Europameisterin. Seit 2010 ist sie stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Stiftung Deutsche Sporthilfe.
AZ: Frau van Almsick, 60 Prozent der Grundschulkinder in Deutschland können nicht sicher schwimmen. Ertrinken ist die zweithäufigste Todesursache bei Kindern. Was sind das denn für Albtraum-Zahlen?
FRANZISKA VAN ALMSICK: Die Zahlen erschrecken mich jedes Mal aufs Neue: Jeder zweite Drittklässler kann nicht sicher schwimmen. Das ist furchtbar. Das Erste, was wegfällt, wenn andere Fächer wichtiger werden, ist der Schwimmunterricht – da muss man sich nicht wundern, wenn solche Zahlen dabei herauskommen. Das müssen wir endlich ändern. Ich fand, den letzten Monat alarmierend: Jedes Wochenende sind einige Menschen ertrunken, auch Erwachsene. Und es wird nicht besser. Schwimmen lernen ist lebenswichtig. Daher meine Bitte: Augen auf! Nicht nur für die eigenen Kinder, sondern für die Gemeinschaft. Wenn wir alle ein bisschen mehr Bademeister sind, können wir vielleicht den einen oder anderen Badeunfall verhindern.
Deshalb bitten Sie nun auch als Schirmherrin mit Europas führendem Pool-Hersteller Desjoyaux in der sogenannte Pool School. Um Kindern das Schwimmen beibringen, kostenlos, direkt vor Ort. Was genau passiert da?
Ein absolut unterstützenswertes Projekt, weil es zeigt, dass jeder etwas tun kann. Es müsste viel mehr solcher Initiativen geben. Desjoyaux stellt seine Ausstellungs-Pools in der nutzungsfreien Zeit Kindern im Alter von 5 bis 12 Jahren zur Verfügung, die noch nicht schwimmen können. Zusätzlich werden qualifizierte Schwimmlehrer kostenfrei bereitgestellt, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, das Seepferdchen-Abzeichen zu erwerben.
Van Almsick: In München muss man "am längsten auf einen Platz im Schwimmkurs warten"
Nicht selten ist es aber so, dass Kinder nach dem Schwimmkurs stolz mit dem Seepferdchen nach Hause kommen – und sich trotzdem noch nicht sicher über Wasser halten können...
Eins muss man ganz klar sagen: Das Seepferdchen ist der Anfang und keineswegs die Bestätigung, dass das Kind sicher schwimmen kann. Viele Kinder sind danach aber motiviert, weiterzumachen, etwa Bronzeabzeichen. Also bitte dran bleiben, liebe Eltern! München ist im Übrigen die Stadt, in der man am längsten auf einen Platz im Schwimmkurs warten muss.
In welchem Alter haben Sie Ihre beiden Söhne sozusagen ins Wasser geworfen?
Da gilt für alle die gleiche Faustregel: im Baby-Alter ans Wasser ran führen, die Angst vor dem Wasser nehmen, Seepferdchen mit fünf oder sechs, Bronze-Abzeichen mit sieben oder acht.
Wie haben Sie schwimmen gelernt?
Ich bin ein ganz schlechtes Beispiel. Mein fünf Jahre älterer Bruder war Schwimmer, sollte mich irgendwann mal vom Kindergarten abholen, war zu spät dran, hat mich zu seinem Training mitgeschleift, auf eine Bank gesetzt und gemeint: "Jetzt kannste mal ne Stunde lang zugucken." Zu Hause hab’ ich zu meiner Mama gesagt: "Also das mach’ ich jetzt auch!" Angeblich bin ich ins Wasser gesprungen und hatte sofort so ein Wassergefühl. Das gibt’s tatsächlich: Man sieht einfach, ob ein Kind eine gute Wasserlage hat, gut klarkommt, sich wohlfühlt. Mit fünf, sechs habe ich angefangen, aber dann war ich bald schneller als andere in meinem Alter.
"Eine Olympia-Bewerbung muss bei den Menschen beginnen"
Wohl wahr: Schon mit neun waren Sie mehrfache Spartakiade-Siegerin, mit 14 je zwei Mal Olympia-Silber und -Bronze in Barcelona. Und Sie waren immer bei Olympia, auch als Kommentatorin. Was macht für Sie den Zauber Olympia aus?
Dieser Mythos. Das hat so Bestand, fällt nicht einfach aus, seit mehr als hundert Jahren schon. Es hat seine eigenen Regeln: Nicht der Beste aus den vergangenen vier Jahren wird Olympiasieger sein, sondern der, der es auf den Punkt bringt. Und man ist 14 Tage lang Teil einer Gemeinschaft, die es sonst nirgends gibt, was einfach atemraubend ist.
Nach langem Hin und Her zeichnet sich nun eine deutsche Olympia-Bewerbung ab. Eine gute Idee?
Eine großartige Idee, wobei ich gespannt bin, wie wir Deutschen das diesmal anpacken. Ich bin kein Fan davon, kleine Planungs-Grüppchen zu bilden. Eine Olympia-Bewerbung muss bei den Menschen beginnen. Es geht darum, das ganze Land zu begeistern, nicht nur die Sport-Begeisterten, sondern gerade auch die Skeptiker und Kritiker. Ich würde mich freuen, wenn sich auch Menschen aus München mitfreuen könnten, wenn zum Beispiel Köln den Zuschlag erhält. Es geht darum, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und zwar quer durch alle Bundesländer. Olympia soll ein Projekt für ganz Deutschland sein. Und es geht darum, dass wir als Nation mal wieder erfahren, dass wir was können. Das beste Beispiel: Frankreich.
Van Almsick über den deutschen Sport: "Man muss etwas verändern, sonst wird das nichts"
Erzählen Sie!
Ich war nie ein großer Fan der Franzosen. In Paris muss ich zehn Mal Croissant sagen, bis der Franzose mal angeblich versteht, was ich meine. Aber wie die sich 2024 präsentiert haben! Wie viele Sympathiepunkte die bei mir gesammelt haben: unfassbar! Ich fahre wahrscheinlich ein Mal mehr in Frankreich-Urlaub, weil ich so begeistert war von ihrer Art. So was wünsche ich mir für unsere Olympia-Bewerbung! Klar, dass das auch was mit unserem Sport macht: wie die Engländer 2012 oder die Franzosen 2024 abgesahnt haben, in allen Sportarten! Vielleicht gelänge uns auch ein richtig strukturierter Umschwung, den wir ja brauchen. Wir sind an einem Punkt im deutschen Sport, wo wir oft nur noch hinterherlaufen und schwimmen. Man muss etwas verändern, sonst wird das nichts.
Die letzte Deutsche, die olympisches Schwimm-Gold geholt hat, war Britta Steffen, 2008 in Peking. Wie schaut’s derzeit beim DSV-Nachwuchs aus?
In Paris hat das deutsche Schwimmteam im Medaillenspiegel Platz 10 erreicht. Bei den Männern hat Lukas Märtens mit seinem Olympiasieg über 400 Meter Freistil natürlich ein Ausrufezeichen gesetzt. Mit dem Weltrekord vor Kurzem hat er bewiesen, dass er sich in der Weltspitze etabliert hat. Wir werden also immer wieder Ausnahmetalente haben. Aber solche Einzelfälle reichen nicht, das ist flächendeckend viel zu wenig, was fehlt, ist die gesellschaftliche Anerkennung für all die Judokas, Ruderer und Schwimmer, die Großartiges leisten. Warum hat eine Bundeskanzlerin es nie geschafft, einfach mal am Flughafen zu stehen und dem Olympia-Team zum Abschied zu winken? Oder bei der Rückkehr zu sagen: "Toll, was ihr geleistet habt, ich bin stolz auf euch!" Stattdessen drängt man sich lieber in die Fußball-Umkleide, weil das natürlich bessere Bilder liefert. Wir haben uns vom Fußball verdrängen lassen. Heute wollen viele Kinder Influencer oder Youtube-Star werden. Berufe, für die man sich nicht so anstrengen muss und trotzdem viel Geld verdient. Aber vielleicht ist das auch der Lauf der Zeit. Wir Athleten müssen zusehen, dass wir diesen Platz, den wir mal hatten, wieder zurückerobern.
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