Europas Top-Teams im Halbfinale nur Zuschauer

London/Köln - Vize-Weltmeister Frankreich von Neuseeland deklassiert, der vermeintliche Geheimfavorit Irland chancenlos gegen argentinische "Pumas" und Schottland mit dem Last-Minute-K.O. gegen Australien: Das Halbfinale der Rugby-WM in England und Wales findet erstmals ohne eine einzige europäische Mannschaft statt. Ausgerechnet beim Turnier im Mutterland des Sports dominieren die Mannschaften aus der südlichen Hemisphäre wie nie zuvor.
Die Rugby-Großmächte Neuseeland, Australien, Südafrika - alle bereits zweimal Weltmeister - und dazu etwas überraschend noch das aufstrebende Argentinien machen den Titel an den kommenden beiden Wochenenden nun unter sich aus. Europas Top-Teams können bei der größten Rugby-Party aller Zeiten dagegen ab sofort nur noch zuschauen. Die Gründe für das kollektive Scheitern sind vielschichtig.
Am nächsten dran waren dabei zweifellos die tapferen Schotten. In einem packenden Duell mit Australien schnupperte der Underdog am Sonntag bis in die letzte Spielminute am erstmaligen Einzug in die Runde der letzten Vier. Erst ein fragwürdiger Straftritt für die "Wallabies", den Bernard Foley zum 35:34-Endstand verwandelte, beendete die schottischen Hoffnungen jäh. "Wir hatten einen Plan, waren mutig und entschlossen. Es tut mir einfach leid für meine Spieler", klagte Schottland-Coach Vern Cotter.
Die australischen Zeitungen würdigten vor allem Foleys Großtat. So schrieb der Sydney Daily Telegraph von einer "Houdini-Aktion". Der Sydney Morning Herald forderte aber mit Blick auf das nächste Spiel eine Leistungssteigerung, nachdem das Team noch einmal den "Klauen des Todes" entkommen sei.
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Wie die Schotten lieferte auch Co-Gastgeber Wales Gegner Südafrika in London einen großen Kampf. Nach dem ersten Versuch der "Springboks" fünf Minuten vor dem Ende musste sich der WM-Vierte von 2011 aber dennoch mit 19:23 geschlagen geben. Die hoch gewetteten Iren - zuletzt zweimal Sieger von Europas prestigeträchtigem Six-Nations-Turnier und in der Gruppenphase mit der makellosen Bilanz von vier Siegen in vier Siegen - mussten dagegen beim 20:43 gegen furiose Argentinier wohl auch den Verletzungen von gleich vier Leistungsträgern Tribut zollen.
Enttäuschend waren derweil die schwachen Auftritte von Europas ehemaligen Vorzeige-Teams England und Frankreich. Während die Franzosen im Viertelfinale von einem neuseeländischen Orkan mit 62:13 weggefegt wurden, scheiterten die Engländer bei der WM im eigenen Land wohl auch am extremen Druck und deshalb schon in der Vorrunde. Allerdings galten beide Teams bereits im Vorfeld des Turniers nicht mehr als absolute Weltklasse.
Dass sich im Halbfinale nun ausschließlich die Mannschaften von der Südhalbkugel duellieren, dürfte die allgemeine Euphorie rund um das Turnier in England deshalb auch nur teilweise stören. Auch das Viertelfinale bot schließlich wieder zahlreiche spektakuläre Partien in ausverkauften Stadien. Das ambitionierte Ziel des englischen Rugby-Verbands RFU, eine "ganze Generation für den Rugby-Sport zu begeistern", ist deshalb keineswegs ausgeschlossen. Damit in den WM-Halbfinals irgendwann auch wieder nördlich des Äquators richtig mitgefiebert werden darf.