Die Klasse von 2006
GELSENKIRCHEN - Riesen-Euphorie nach einem Vorbereitungs-Sieg: Löws Auswahl dreht den letzten Test gegen Serbien und wähnt sich reif für die EM-Abschlussprüfung.
Kurz bevor die Autogrammjäger die Dame im hoffnungsgrünen Blazer belagerten und der Schriftzug Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar Prinzessin-Lillifee-Blocks zierte, zeigte DFB-Präsident Theo Zwanziger der Kanzlerin, was einen Führungsspieler auszeichnet. Merkel hatte beim Siegtreffer ja eher verdruckst gejubelt, die angewinkelten Jubelfäustchen brachten es immerhin bis auf Schulterhöhe. Zwanziger aber imitierte Michael Ballack, Arm ausgestreckt, Faust überm Kopf, eine triumphale Pose.
Dann ging Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Bundestrainer ins Fernsehen, sie ließ sich von Jogi Löw den Weg in die Kabine weisen, schwärmte angesichts Ballacks Freistoßtreffers von einem „Bilderbuchspiel“ und sprach zu den schwitzenden Männern: „Ich wünsche viel Kraft und gute Nerven und wünsche im Namen aller: Good luck!“ Sie sagte es tatsächlich auf englisch. Und Ballack, der Kapitän, hielt dagegen: „Wir hoffen, Deutschland würdig zu vertreten.“
Ja, ist denn schon wieder WM?
Am Samstag wenigstens war’s auf Schalke wie 2006 im ganzen Land. Auf dem Ernst-Kuzorra-Weg und dem Stan-Libuda-Weg in jedem Auto Deutschland-Fahnen (trotz erhöhten Spritverbrauchs), schwarz-rot-gold geschminkte Mädels in der Veltins-Arena und eine Feierstimmung ebendort, die an die Sommermärchen-Euphorie erinnerte. Nur der Franz im Hubschrauber, der hat noch gefehlt. Jedenfalls ist Deutschland nach dem 2:1 im Testkick gegen die Serben jetzt schon gefühlter Europameister.
Es hätte auch anders kommen können.
Nach dem 2:2 letzte Woche gegen Weißrussland hatte es Zweifel gegeben an Löws Mannschaft und Debatten um den Torwart, die Abwehr und den ach so mutlosen Verzicht auf Talente wie Marin, Helmes und Jones. Und dann lag Löws Team acht Tage vor Turnierbeginn gegen die Serben früh zurück, und nur die Latte verhinderte später das 0:2 und eine erste Jogi-Dämmerung.
Ballack Everbody’s Darling
Doch dann kam Ballack. Grätschte, dirigierte, peitschte das Team nach vorn, brachte die Mitspieler in Position. Den Ausgleich durch Neuville vorbereitet, den Siegtreffer selbst erzielt, so sorgte er dafür, dass selbst Günter Netzer nicht aus dem Kreise der fröhlichen Fahnenschwenker ausscheren konnte: „Eine große, perfekte Leistung. Ich habe ihn nie in einer besseren Verfassung gesehen. So habe ich ihn mir immer gewünscht. Ballack kann und wird bei der EM den Unterschied machen.“ Wohlgemerkt: Es handelt sich um denselben Spieler, dem Netzer dereinst wegen dessen Herkunft (neue Länder!) Führungsfähigkeiten absprechen wollte.
Nun aber ist Ballack Everbody’s Darling, „der klare Chef auf dem Platz“ (DFB-Boss Zwanziger), „der im entscheidenden Moment Verantwortung übernimmt“ (Bundestrainer Löw), eben „ein echter Leader“ (Mittelfeld-Kollege Fritz). Und die Mannschaft folgt ihm. Dies ist, wie 2006, sein Team – mit dem Unterschied, „dass wir jetzt unser zweites Turnier in dieser Formation angehen“.
Reif für die Anschlussprüfung
Die Klasse von 2006, sie hat sich weiterentwickelt, sie ist reif für die Abschlussprüfung. Dass dieses 2:1 gegen Serbien nicht titelreif war, wissen sie selbst; aber wie sie nach dem Rückstand das Spiel gedreht haben, „das ist gut für die Moral und das Selbstvertrauen“, findet Löw, der seinem Team zwei Tage frei gab, „sie sollen aktiv regenerieren“. Ballack verstand auch dies am besten: „Ich werde in München vom Fußball abschalten“, sagte er und tat dies bis in die frühen Sonntagmorgenstunden im P1, nicht ohne zu erwähnen, „ab Dienstag nur noch ein Ziel vor Augen“ zu haben, „den EM-Titel“. Recht so.
Und dann wäre noch die Steuerfrage zu klären. Als Merkel den Spielern in der Kabine „good luck“ wünschte, haben die sich auch an England 1996 erinnert; da war schon mal ein deutscher Regierungschef ständiger Kabinengast, bis die Kicker sangen: „Kanzler, senk den Steuersatz!“ Zeiten waren das: Kohl hieß der Kanzler, Vogts der Bundestrainer und Deutschland der Europameister. (Nur) Letzteres könnte bald wieder zutreffen.
Gunnar Jans