Die Angst nach dem Gold
Kati Wilhelm fragt sich nach ihrem WM-Gewinn, ob „sich die Leute von uns abwenden – wie von den Radfahrern“. Endzeitstimmung bei den Biathleten nach den Dopingskandalen um die Russen.
PYEONGCHANG Den kritischsten Moment hatte Kati Wilhelm am Sonntag zur Abwechslung schon vor dem Start überstanden. Zwei Stunden vor dem WM-Verfolgungsrennen ging in dem Gebäude am Biathlon-Stadion von Pyeongchang nämlich ein Schuss los, der nicht vorgesehen war. Abgefeuert hatte ihn Wilhelms Teamkollegin Andrea Henkel - weil sie beim Trockenschießen aus Versehen zu einem Magazin gegriffen hatte, das nur vermeintlich leer war. „Ich war mit im Raum, und es war lauter als sonst", berichtete Wilhelm, die den Schaden sofort inspiziert hatte: „Ein glatter Durchschuss - und hinter der Wand ist ein Gang. So etwas kann richtig böse ausgehen."
Henkels persönlicher Schutzengel sorgte immerhin dafür, dass in dem Moment niemand über den Flur spazierte. Verletzte gab es nicht, gesperrt wurde die nachlässige Titelverteidigerin, tags zuvor im Sprint Sechste, vom Weltverband für die Verfolgung trotzdem.
Die aufregende Episode kurz vor dem Start passte zum WM-Chaos aus Wetterkapriolen, überforderten Gastgebern, peinlich leeren Zuschauerrängen und nächtens flüchtenden Dopingsündern. Gestern vollführte Magdalena Neuner bei der letzten Abfahrt noch einen spektakulären Sturz, fiel nach ihrem achten Platz im Sprint so auf Rang elf zurück. „Das war mein Fehler, jetzt muss ich erstmal meinen Hintern behandeln lassen", murmelte Neuner.
Bei blauen Flecken hilft Arnika, die neue Weltmeisterin Kati Wilhelm dagegen kündigte nach ihrem Goldmedaillen-Gewinn im Sprint am Samstag und Silber tags drauf in der Verfolgung hinter der Schwedin Helena Jonsson erfreulichere Pläne für den Sonntagabend an. „Ein Gläschen Wein muss jetzt schon sein.“
Der Erfolg am Samstag war Wilhelms erster Einzeltitel bei einer WM seit 2001, was der Ruhpoldingerin den geplanten Abschied vom Biathlon nach den Olympischen Spielen im nächsten Jahr erleichtern wird: „So habe ich mir das vorgestellt: Gold bei meiner ersten WM - und nun auch bei meiner mutmaßlich letzten."
Bei der Siegerehrung ging ihr dagegen alles ein bisschen hoppla hopp. „Außerdem“, mäkelte Wilhelm, „hatte ich schon die Blumen in der Hand, als sie mir die Goldmedaille um den Hals gehängt haben.“ Vernichtendes Fazit: „Das war alles überhaupt nicht durchorganisiert.“
Letztlich sind dies aber Kleinigkeiten im Vergleich zum womöglich abgrundtiefen Dopingmorast, der sich im Land der Skijäger aktuell auftut.
Am Samstag stand neben Wilhelm nicht nur Silbermedaillengewinnerin Simone Hauswald auf dem Treppchen - die Schwäbin mit den südkoreanischen Wurzeln, die den größten Erfolg ihrer Karriere, erzielt in ihrer zweiten Heimat, als „irrwitzig" bezeichnete. Sondern auch die Drittplatzierte Olga Saitsewa, die in der Verfolgung gestern erneut Bronze holte. Aus unerfindlichen Gründen lachte die Russin bei der Frage nach ihren gedopten Team-Kollegen Ekaterina Jurjewa, Albina Achatowa und Dmitri Jaroschenko unentwegt, ehe sie sich zu einem dürren Statement („Ich bin davon betroffen, aber ich kann sie nicht verurteilen") aufraffte.
Weltmeisterin Wilhelm war bei so viel demonstrativer Ignoranz schon froh, „dass die es nicht gemacht hat wie die Russinnen in Turin.“ Widmete das russische Quartett den Staffelsieg bei Olympia 2006 doch der frisch des Dopings überführten Olga Pylewa, die nach zweijähriger Sperre nun als verheiratete Frau Medwedzewa bei der WM startet. Als „starken Tobak" empfand es Kati Wilhelm zudem, dass der Russe Maxim Tschudow in seinem Internet-Blog schrieb, auch Biathleten anderer Nationen, darunter die Deutschen, würden sich „nicht nur mit Würstchen stärken“.
Kati Wilhelm mag darüber nicht lachen – dafür ist die Lage zu ernst. „Wir können nur sagen: Wir sind negativ getestet", sagt die Management-Studentin, der der Mief des Betrugs in ihrem Sport zu schaffen macht. „Man weiß nicht, ob in Russland alle so arbeiten wie die drei überführten Biathleten. Aber da ist ein fader Beigeschmack dabei", sagt Wilhelm. „Das Thema beschäftigt uns alle. Schließlich sind gerade drei Hochkaräter erwischt worden. Das sind Fälle, die unseren Sport kaputt machen.“ Es sei „im Moment schwer, glaubwürdig rüberzukommen“. Und: „Ich habe Angst davor, dass sich die Leute von uns abwenden - wie bei den Radfahrern, von denen sind sie ja auch verarscht worden.“
Andreas Morbach
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