Der Größte aller Zeiten: Reporter Hartmut Scherzer über Muhammad Alis 80.

Am 17. Januar wäre Muhammad Ali 80 Jahre alt geworden. In der Abendzeitung erinnert sich Sportreporter-Legende Hartmut Scherzer an seine zahlreichen Begegnungen mit "The Greatest".
| Hartmut Scherzer
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Handshake mit dem Champ: Reporter Scherzer und Ali 1998.
Handshake mit dem Champ: Reporter Scherzer und Ali 1998. © privat

München - München, 15. Dezember 1998. In aller Herrgottsfrühe landet Muhammad Ali in einem Lufthansa-Flieger aus Chicago. Begleitet wird "The Greatest" von seinem engsten Freund seit über 30 Jahren, dem Fotografen Howard Bingham.

Anlass des dreitägigen Besuchs: Die Premiere der Fernseh-Gala "Die Ersten - Deutschlands Sportler 1998." Die ARD hat "The Greatest" für 200.000 Dollar als Stargast eingeladen. An der Gangway wartet ein Empfangskomitee mit Henry Maske. Ein von Parkinson gezeichneter Muhammad Ali erkennt mich sofort, umarmt mich und raunt mir mit rauer Stimme ins Ohr: "We are getting old." Ali ist 56, dreieinhalb Jahre jünger.

Ali: "Die denken, ich bin ein blöd geschlagener Boxer"

Seit 14 Jahren waren wir uns nicht mehr begegnet. Zuletzt, drei Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles, hatte ich ihn in seinem hermetisch abgeriegelten Anwesen am Wildshire Boulevard besucht. Ali hätte von seiner weißen Villa zu Fuß ins Coliseum gehen können. "Ich habe keine Einladung", sagte der "Champ" (meine Anrede) mit traurigem Lächeln. "Die denken, ich bin ein blöd geschlagener Boxer."

Das einstige Großmaul nuschelte, war lethargisch, kritzelte stumpfsinnig auf gelben Bögen, schlief zwischendurch an seinem Schreibtisch ein. Ein erschütterndes Wiedersehen. Knapp zwei Monate später machte der dreimalige Schwergewichtsweltmeister auf einer Pressekonferenz in New York seine Nervenkrankheit öffentlich. Fortan kämpfte Ali schicksalsergeben gegen den Dämon Parkinson. 32 Jahre lang bis zum Tod am 3. Juni 2016. An diesem 17. Januar wäre der "universelle Soldat unserer gemeinsamen Menschlichkeit" (Ex-Präsident Bill Clinton in seiner Trauerrede) 80 Jahre alt geworden.

Selbst US-Präsident Clinton musste weinen

Vergessen in Los Angeles, feierte die Ikone in Atlanta 1996 das Comeback des Jahrhunderts. Wie aus dem Nichts kehrte der größte Champion der Sportgeschichte auf den eigenen Olymp zurück. 85.000 Menschen im Olympia-Stadion schrien auf: "Ali, Ali". Das streng gehütete Geheimnis (Howard Bingham hatte die Idee) war mit der letzten Fackelübergabe gelüftet.

An die drei Milliarden Menschen sahen vor den TV-Bildschirmen der Welt angespannt zu, wie Muhammad Ali zitternd kämpfte, das Olympische Feuer zu entzünden. "Ali, Ali" dröhnte es wieder, als das Feuer loderte. Diese berührende Szene trieb mir Tränen in die Augen. Ich befand mich in prominenter Gesellschaft. Ein Kameraschwenk zeigte einen weinenden Präsidenten Bill Clinton.

Diesen außergewöhnlichen Menschen mit seinem umwerfenden Charme und seinem faszinierenden Charisma persönlich gekannt zu haben, war ein Geschenk des Himmels. Als Ali noch Cassius Clay hieß, war ich ihm nach dem Abbruchsieg gegen Henry Cooper am 18. Juni 1963 in London in der Kabine erstmals persönlich begegnet. Privat, ohne Kamera und Scheinwerfer, war der narzisstische Schreihals ein netter Plauderer.

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Seine legendären Jahrhundertkämpfe am Ring erlebt zu haben, war eine Gnade des Berufs. Unvergessen: der "Fight of the Champions", der Kampf der unbesiegten Weltmeister, gegen Joe Frazier 1971 im New Yorker Madison Square Garden. Ali in der 15. Runde am Boden. Die erste Niederlage. Nach Punkten. Der "Rumble in the Jungle" gegen den unbesiegten George Forman 1974 in Kinshasa. Ali wurde durch einen K.o.-Sieg in der 8. Runde wieder Weltmeister. Der "Thrilla in Manila" 1975 abermals gegen Joe Frazier, den sein Trainer Eddie Futsch zur 15. Runde nicht mehr antreten ließ, mit der Begründung: "Der nächste Schlag hätte tödlich sein können."

"Bei elf seiner 25 Weltmeisterschaften saß ich am Ring"

Den Sieg gegen Sonny Liston (Aufgabe nach der 6. Runde), der Cassius Clay am 25. Februar 1964 in Miami Beach zum Weltmeister krönte ("King of the World"), habe ich verpasst. Bei elf seiner 25 Weltmeisterschaften, darunter natürlich auch die gegen Richard Dunn (K.o.-Sieg 5. Runde) am 24. Mai 1976 in der Münchner Olympiahalle, saß ich jedoch am Ring. Und immer wurde mir von Howard Bingham oder Trainer Angelo Dundee die Kabinentür geöffnet. Ich musste nicht Norman Mailer heißen.

Seit der Titelverteidigung gegen Karl Mildenberger (TKO 12. Runde) am 10. September 1966 in Frankfurt gehörte ich irgendwie dazu. Galt ich doch sogar als der Matchmaker. Vor dem Kampf gegen den Empire Champion Henry Cooper im Mai 1966 in London hatte ich Alis Manager Herbert Muhammad für eine Zeitungsgeschichte gefragt, ob nicht auch der deutsche Europameister Mildenberger ein Gegner wäre. Die Antwort: "Great idea. Bring him over. Today." Nach meinem Anruf landeten anderntags Mildenberger und Manager Wolfgang Müller in London.

Heute eine Ikone der Boxfotografie: Muhammad Alis (damals noch als Cassius Clay) Weltmeisterschafts-Triumph über Sonny Liston, der nach der sechsten Runde aufgeben musste.
Heute eine Ikone der Boxfotografie: Muhammad Alis (damals noch als Cassius Clay) Weltmeisterschafts-Triumph über Sonny Liston, der nach der sechsten Runde aufgeben musste. © imago images/United Archives International

Mit Angelo Dundee verband mich seitdem eine echte Freundschaft. Ich hab's mehrfach schriftlich. Eine Postkarte 1973 aus Las Vegas: "Dear Hartmut. Here with Ali. All is going well. Always your buddy. Angelo". Zum 90. Geburtstag am 30. August 2011 in Tampa Bay, Florida, habe ich ihn besucht. Ein halbes Jahr später starb der erfolgreichste Boxtrainer aller Zeiten.

Muhammad Ali:  Vom weißen Amerika als Vaterlandsverräter geächtet

Die Bewunderung galt nicht nur dem tänzelnden Boxästheten ("Float like a butterfly, sting like a bee"), sondern genauso dem Überzeugungskämpfer gegen Rassismus in den USA, gegen das weiße Establishment, gegen den Vietnam-Krieg ("I ain't got no quarrel with them Viet Cong". Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong). Der Rebell machte sich den Staat zum Gegner.

Als der zum Islam konvertierte Muhammad Ali am 1. Juni 1967 den Wehrdienst verweigerte, ächtete ihn das weiße Amerika als Vaterlandsverräter. Die Afroamerikaner feierten ihn wie einen Freiheitshelden. Ali nahm Titel- und Lizenzentzug in Kauf, wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, blieb aber gegen eine Kaution von 5.000 Dollar auf freiem Fuß. Der Reisepass wurde eingezogen. Der Supreme Court hob das Urteil erst drei Jahre später auf. Drei Jahre, die besten zwischen 25 und 28, hatte Ali seiner entschlossenen Haltung geopfert.

Bei jedem Wiedersehen nach der Münchner Umarmung hatte sich Alis Zustand verschlechtert. Schon am 17. Januar 1999 in Las Vegas zu seinem 57. Geburtstag, am Tag nach dem Kampf Tyson-Botha, war eine Unterhaltung auf seinem Hotelzimmer im MGM Grand sehr mühsam. Parkinson nahm ihm im letzten Drittel seines dramatischen Lebens seine Sprache, die Eloquenz. Geblieben war die Ausstrahlung. Die letzte "Face-to-Face"-Begegnung: 11. November 2006, New York Madison Square Garden anlässlich der WM Wladimir Klitschko-Calvin Brock mit Laila Ali im Vorprogramm.

Muhammad Ali war ein Mythos für die Ewigkeit

Seit seinem 70. (2012) schickte ich jedes Jahr eine E-Mail zum Geburtstag an seine (vierte) Ehefrau Lonnie Ali. "Muhammad says thanks." Ihre letzte Antwort: "Dear Hartmut. Thank you for your continued interest in Muhammad and his legacy." Danke für dein kontinuierliches Interesse an Muhammad und seinem Vermächtnis. Muhammad Ali war ein globaler Held und nicht nur ein polarisierender "American hero". Ein Mythos für die Ewigkeit.


Kein deutscher Sportjournalist ist Muhammad Ali wohl jemals so nahegekommen wie Hartmut Scherzer. In unzähligen Büchern hat er über seine vielen Begegnungen mit den "GOAT", den Größten aller Zeiten, geschrieben. Zuletzt in seinem Karriererückblick "Weltsport - 60 Jahre Erlebnisse einer Reporter-Legende" (Societäts Verlag, 2021).

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