Der Flüchtling reißt aus
Mit seinen Eltern floh Tony Martin einst aus der DDR. Nun fährt er im Weißen Trikot auf und davon
COLMAR Familie Martin hätte auch noch warten können. Einfach noch ein paar Monate. Und dann gemütlich über die offene Grenze hinüber, ob zu Fuß oder mit dem Trabbi. Aber das wusste Familie Martin damals, im Sommer 1989, natürlich noch nicht, dass im November die Mauer fällt. Deswegen machten sie sich schon im Sommer auf. Illegal. Mit den beiden Söhnen, dem Paul und dem Tony. Aus dem Wohnort Hoyerswerda nach Ungarn, von dort in die BRD.
Das Flüchtlingskind, das jetzt bei der Tour ausreißt.
Auch am Start der 13. Etappe am Freitag (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe beendet) trug der 24-Jährige das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers. „Einmal in diesem Trikot zu fahren, das war mein großes Ziel vor der Tour“, sagt der Team-Columbia-Fahrer. Nun hatte er es schon zum zehnten Mal an. Und vielleicht fährt er damit auch am Sonntag nächster Woche nach Paris.
Im Gesamtklassement ist Martin Siebter und drittbester Nicht-Astana-Fahrer, einer wie er gilt mit seinen gerade 24 Jahren schon automatisch als kommender Toursieger.
Er selbst hält sich da noch zurück. „In fünf, sechs Jahren“, sagt er, da wolle er um den Gesamtsieg mitfahren. Auch wenn das vielleicht schon früher kommt, Martin hält sich ganz bewusst zurück, damit sie ihn nicht hochjubeln als das neue Radsport-Idol der Nation.
Eine vernünftige Strategie, wie auch Jens Voigt weiß, der 37-jährige Routinier. „Als junger Mensch neigt man dazu, abzuheben, sich für unschlagbar und unverwundbar zu halten“, sagte der Saxo-Bank-Profi, der im Mittelfeld der Gesamtwertung liegt. „Aber Tony ist ein vernünftiger Kerl. Die Gefahr, dass er abhebt, ist nicht sehr groß.“ Weil auch Martin weiß, dass er dann in Krisenzeiten nur noch tiefer fallen würde.
Wie etwa Jan Ullrich.
Natürlich gibt es in diesen Tagen viele Vergleiche mit Ullrich. Auch er gewann 1996 das Weiße Trikot, damals mit 23 Jahren, schon im Jahr darauf dann triumphierte er in Gelb. „Tony lebt auch von der Kraftkomponente“, sagt Columbia-Sportdirektor Rolf Aldag zu Parallelen zu Ullrich, „Tony ist ebenso schwer zu knacken.“
Viel Wert auf weitere Gemeinsamkeiten mit Ullrich legt Martin natürlich nicht, mit Doping will er nichts am Hut haben, beteuert er. Auch wenn es bisher bei der Tour 2009 noch keinen positiven Fall gab: Dem Thema kann er aber nicht entfliehen.
Eben weil er so gut ist. Und eben weil das Weiße Trikot in den vergangenen Jahren nicht immer ein Synonym für Sauberkeit war, wie ein Blick auf die Siegerliste zeigt. Didi Thurau, Marco Pantani, Ullrich, Oscar Sevilla, Ivan Basso, Alberto Contador.
Schatten der Vergangenheit, die das Bild des Radsports noch immer verdunkeln, die verhindern, dass Martin schnell zu einer Lichtgestalt werden kann. Die Skepsis fährt weiter mit.
Fragen dazu hat Tony Martin bisher immer geduldig beantwortet. Dass er es sich gar nicht leisten könne, schließlich setze er dann seinen Beruf aufs Spiel. Denn erst im Januar machte er seine Ausbildung zum Polizeimeister.
Es wäre wünschenswert, wenn mit Martin endlich einer mitradeln würde, der wirklich ein Vertreter einer neuen unverseuchten Doping-Generation wäre. Glauben mag man es noch nicht.fk
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