„Baby-Schumi“ ist am Ziel
ABU DHABI - Michael Schumachers Karthändler hat ihn entdeckt, BMW hat ihn ausgebildet, zum Champion gereift ist der Beatles-Fan aus Heppenheim erst bei Red Bull. Am Sonntag in Abu Dhabi hat er sich gekrönt.
Vor fünf Jahren musste Sebastian Vettel noch regelmäßig seine Hausaufgaben bei seinem Chef vorzeigen. Manchmal gab Mario Theissen, damals wie heute Motorsportdirektor bei BMW, diesem schmächtigen, blonden Jungen mit der Zahnspange selbst auch welche auf. Auch dann noch, als der Junge, den viele damals schon „Baby-Schumi“ nannten, längst das Abitur geschafft hatte. Es waren Aufgaben zum Thema Maschinenbau, Aerodynamik. Dinge eben, mit denen sich promovierte Ingenieure wie Theissen und talentierte Rennfahrer wie Vettel, der damals in der Nachwuchsklasse Formel BMW gerade 18 von 20 Rennen gewonnen hatte, auskennen sollten.
Seit gestern Nachmittag ist Sebastian Vettel Weltmeister. Dank seines Sieges in Abu Dhabi sicherte sich der 23-Jährige aus dem hessischen Heppenheim den Titel. Er ist der erste Deutsche, dem dies nach Michael Schumacher gelang – und neben ihm auch der einzige. Schumacher hatte 1994, nach seinem ersten Titel, an den während der Saison tragisch verunglückten und verstorbenen Ayrton Senna gedacht, den Titel hatte er sich gesichert, indem er seinen Rivalen Damon Hill von der Strecke rammte. Vettel legte gestern in Abu Dhabi eine blitzsaubere Fahrt hin – und widmete den Titel anschließend seinen Eltern. „Ich habe nach der Zieldurchfahrt an meine Eltern und meine Geschwister gedacht, die hier dabei sind. Ich möchte ihnen danken. Und auch meiner Freundin und ihren Eltern, die zu Hause auf der Couch die Daumen gedrückt haben.“
„Es hat der würdigste Mann, der schnellste Mann, die Weltmeisterschaft in sehr eindrucksvoller Weise gewonnen“, sagte später Helmut Marko. Der war früher selbst mal Formel-1-Rennfahrer und ist heute Berater von Vettels Red-Bull-Rennstall und ähnlich wichtig für Vettels rennfahrerische Ausbildung wie Theissen und vor ihnen der Kerpener Karthändler Gerd Noack, der auch schon Michael Schumacher den Weg in den Motorsport geebnet hatte. Noack finanzierte Vettel und dessen Eltern die ersten Jahre im Kartsport, Marko überzeugte dann den Brause-Milliardär Didi Mateschitz, ein Vermögen in Vettel zu investieren und ihn mit einem langfristigen Sponsoren-Vertrag auszustatten. Theissen und BMW schließlich sorgten für den Feinschliff und ermöglichten dem heute 23-Jährigen 2006 den Einstieg in die Formel 1. Erst als Testfahrer, 2007 dann, nach einem schweren Unfall des damaligen Stammfahrers Robert Kubica, das Debüt. Vettel war damals der jüngste Fahrer, der es je in der Formel 1 geschafft hatte. Wobei er das schon immer war – und bis heute ist. 2008 gelang Vettel im technisch unterlegenen Toro Rosso bei widrigen Bedingungen ein sensationeller Sieg in Monza – als jüngster Rennsieger aller Zeiten. Gestern krönte er sich zum jüngsten Formel-1-Weltmeister aller Zeiten.
Für Noack, Marko und Theissen ist Vettel, auch wenn sie es wahrscheinlich nie zugeben würden, eine Art Ziehsohn. Wobei es Vettel einem auch nicht schwer macht, Gefühle für ihn zu entwickeln. Vettel ist auch bei seinen Rivalen beliebt. In der Vollgas-Branche, in der Egomanie mit als wichtigster Wesenszug für Rennfahrer gilt, ist das eine ziemlich außergewöhnliche Leistung. Geschafft hat er das dadurch, dass er bis heute nicht abgehoben wirkt. Stimmen imitieren kann wie kaum ein anderer – und er kennt so viele derbe englischer Flüche, dass selbst Formel-1-Impressario Bernie Ecclestone ihn als einen der seinen akzeptiert.
Auch Vettels Hobbies sind für einen Formel-1-Fahrer eher ungewöhnlich. Er, der noch gar nicht geboren war, als John Lennon ermordet wurde, ist ein großer Beatles-Fan, wahrscheinlich der schnellste der Welt. Letztes Jahr ersteigerte er sich eine der letzten Exemplare der Original-Pressung des Albums „With The Beatles“. Früher war er Fan von Michael Jackson. „Als ich klein war, wollte ich wie Michael Jackson werden“, verriet er einmal. „Es war schmerzhaft, als ich realisiert habe, dass mir die Stimme dafür fehlt.“
Statt zu singen, schickt er heute nach jedem Sieg einen Juchzer über den Boxenfunk und sammelt ansonsten lieber Schallplatten aus Vinyl und stöbert dabei auch während eines Formel-1-Wochenendes schon mal stundenlang in den Auslagen. Eine Zeit lang hatte er bei den Rennen auch immer eine Gitarre dabei, vorzugsweise um Beatles-Lieder zu üben. Die Kollegen spielen derweil lieber Poker.
Trotz dieser fast schon herrlich altertümlichen Hobbys ist Vettel für die Zeitgeistbrause Red Bull mittlerweile der wichtigste Werbeträger. Und sicher nicht nur, weil er im selben Jahr geboren wurde wie der Energy Drink. Für Red-Bull-Boss und Marketing-Genie Mateschitz verkörpert Vettel einen „Jung-Siegfried“.
Vettel ist ein Held, der lächeln kann – und die Menschen zum Lachen bringt. Im Auto aber mutiert er zu einer ähnlich gnadenlosen Renn-Maschine wie einst Michael Schumacher oder heute Lewis Hamilton. Sobald das Visier unten ist, ist sich nur Vettel der nächste. „Ob man Zweiter oder Fünfter ist, das ist egal. Wichtig ist es nur, die Nummer 1 zu sein“, betont er oft.
Genau dieser Ehrgeiz hätte ihm fast den Titel gekostet; Mitte der Saison schoss er seinen Teamkollegen Mark Webber ab. Anders als Schumacher damals bei Hill zwar eher versehentlich. Aber eben doch auch kalkuliert. Trotzdem: Dieser Überehrgeiz und der unbedingte Siegeswille, das verbindet ihn mit Schumacher, dessen Poster er damals im Zimmer hängen hatte. Und dieser Überehrgeiz war es auch, der Vettel, den Sohn eines nicht gerade vermögenden Zimmermanns, in die gefährliche Glitzerwelt des Motorsports trieb.
„Ich hab auch Fußball gespielt, aber nicht viele Tore geschossen und hatte nicht viele Einsätze“, sagte er mal. Auch im Tennis, Tischtennis oder Beachvolleyball hat er sich versucht. „Aber ich war nie der Beste, also habe ich es gelassen. Ich hasse verlieren.“
Gewinnen kann er tatsächlich am besten.
Filippo Cataldo