Die unterschätzte Gefahr

In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 60.000 Menschen an einer Blutvergiftung. 
von  Michael Backmund

München - Deutschland sterben jedes Jahr etwa 60.000 Menschen an einer Sepsis. Experten wollen die oft vergessene Krankheit stärker als bisher ins Bewusstsein von Ärzten und Patienten bringen.

Anna Kaiser (Name geändert) fühlte sich einfach nur schlecht und hatte etwas Fieber. Die 29-Jährige packte trotzdem ihr Kleinkind auf den Arm und ging zur Sicherheit in die Notaufnahme des Klinikums Harlaching. Das war ihr Glück: Die Ärzte hatten den richtigen Riecher und machten sofort verschiedene Notfall-Untersuchungen. Das Ergebnis bestätigte ihren Verdacht: Neben erhöhten Entzündungszeichen war der Lactat-Wert in ihrem Blut deutlich erhöht.


„Das ist ein klarer Hinweis auf einen drohenden Schockzustand mit Sauerstoffmangel und ein wichtiger Baustein für die frühe Diagnose einer lebensgefährlichen Sepsis”, erklärt Dr. Claus Peckelsen, Kommissarischer Leiter der Klinik für Akut- und Internistische Intensivmedizin. Anna Kaiser hat überlebt, weil die Krankheit bei ihr frühzeitig behandelt werden konnte. „Es ist wie bei einem Brand, der früh gelöscht werden muss”, sagt Peckelsen.


Das ist oft nicht der Fall: Die Sepsis zählt neben Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs zu den drei häufigsten Todesursachen überhaupt. Allein in Deutschland erkranken jedes Jahr rund 154000 Menschen, etwa 60000 sterben (statistisch 168 täglich), allein 9000 in Bayern. Trotzdem ist die Sepsis bei vielen Patienten, Ärzten und Gesundheitspolitikern nicht im Bewusstsein: „Sie ist eine unterschätzte Gefahr, eine vergessene Krankheit”, bestätigt Peckelsen: „Sie taucht oft noch nicht einmal in den offiziellen Statistiken auf, weil dort meist die Primärinfektionen aufgeführt sind. Das ist irreführend.”

Was passiert bei einer Sepsis?


„Wenn die körpereigene Abwehr des Immunsystems einen Infekt, zum Beispiel eine Lungenentzündung, nicht mehr auf den lokalen Entzündungsherd begrenzen kann, kann eine explosive Kettenreaktion im gesamten Organismus entstehen”, erklärt Peckelsen. Besonders gefährdet sind Patienten, bei denen nach Unfällen, Verbrennungen, Operationen, bei Tumorleiden, Lebererkrankungen, Erschöpfungszuständen oder Diabetes die Abwehr ohnehin bereits stark geschwächt ist.
In solchen Extremsituationen zirkulieren abgestorbene Zellreste und zerstörte Eiweißpartikelchen im Blut, die umgehend von den Zellen abtransportiert werden müssen. Damit ist die körpereigene Abwehr voll ausgelastet: Im Notfall fehlt dem Immunsystem dann die Leistungsfähigkeit, Fremdkeime rechtzeitig zu erkennen, weil die weißen Blutkörperchen noch mit der Beseitigung der zerstörten Zellreste beschäftigt sind.


In der Regel sind ältere Menschen ab 60 Jahre betroffen. „Aber auch gesunde jüngere Menschen können, sobald sie geschwächt sind oder spezielle Keime das individuelle Abwehrsystem überfordern, eine Sepsis bekommen”, sagt Peckelsen. In rasender Geschwindigkeit überschwemmen dann Keime und Bakterien bzw. deren Giftstoffe den gesamten Körper und können vom Immunsystem nicht unschädlich gemacht werden. Innerhalb weniger Stunden können wichtige Organfunktionen versagen: „Der Amoklauf im Körper endet oft mit einem tödlichen Schock, der Kreislauf kollabiert”, erklärt Peckelsen.


Dabei sind die Symptome einer Sepsis im Anfangsstadium völlig unspezifisch: „Sie gleichen einer Grippe, darin besteht die große Gefahr”, warnt Peckelsen.
 
Je schneller, desto besser


Je früher die Therapie beginnt, desto größer die Überlebenschancen: „Wenn ein lokaler Entzündungsherd vorliegt, wird dieser, sofern möglich, operativ entfernt”, sagt Peckelsen – also zum Beispiel ein Abszess oder eine Bauchfellentzündung.
Außerdem erhalten Sepsis-Patienten hoch dosiert Antibiotika, literweise Flüssigkeit und kreislaufstabilisierende Mittel. Häufig werden Sepsis-Patienten auf der Intensivstation künstlich beatmet und an eine künstliche Niere angeschlossen (Dialyse).
 
Man könnte viele Leben retten


„Zur Rettung ist eine frühe Diagnose entscheidend”, sagt Peckelsen: „Wir könnten viele Leben retten, wenn Patienten und Ärzte bei einer diffusen Symptomatik öfter an die mögliche Gefahr einer Sepsis denken.” Deshalb sein Rat: „Notfalls sollte man bei einer zweifelhaften Diagnose lieber früher zur Abklärung in ein großes Akutkrankenhaus gehen.” Dort können erfahrene Intensivmediziner mit entsprechenden Untersuchungen schneller eine klare Diagnose stellen bzw. eine Sepsis ausschließen: „Das könnte vielen Menschen das Leben retten”, sagt Peckelsen.  * Name geändert.

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