Zerstört Stefan Raab mit Abor & Tynna sein ESC-Vermächtnis? Musik-Experte spricht Klartext
In Basel wollen Abor & Tynna nicht nur Löcher in die Nacht ballern, denn das Geschwisterpaar zielt auf einen ganz besonderen Preis: Mit ihrem Song "Baller" treten die beiden am 17. Mai für Deutschland zum Finale vom Eurovision Song Contest an. Die Aussichten auf Erfolg oder gar den Sieg stehen nicht gut, Buchmacher und Wettbüros sehen den Beitrag weit hinten. Wie wird das Lied und die Performance von Experten eingeschätzt? Die AZ hat dazu den Kabarettisten und Musikwissenschaftler Markus Henrik, besser bekannt als Dr. Pop, zum Gespräch gebeten. Wie sieht er die ESC-Chancen von Abor & Tynna?
Nicht Deutschland: Diesen ESC-Beitrag sieht Dr. Pop ganz vorne
AZ: Am 17. Mai steht das Finale des Eurovision Song Contests in Basel statt. Wen sehen Sie persönlich auf den vorderen Plätzen?
DR. POP: Schweden. Die sind ohnehin Großmeister für internationale Popproduktionen (ABBA, Roxette, Europe etc.) und der Song "Bara, Bada, Bastu" besingt witzig das Saunieren. Sehr stark gesungen sind die Songs aus Frankreich und Niederlanden. Österreich steht in den Prognosen nachvollziehbarerweise auch nicht schlecht da. Stimmlich geht es beim Sänger JJ in Höhenlagen, bei denen selbst der Vorjahressieger Nemo aus der Schweiz sagen würde: Das ist mir zu hoch. Erika Vikmann aus Finnland wird mit ihrem Song "ICH KOMME" (sic!) gewiss in den Top Ten landen.
Musik-Experte über "Baller" von Abor & Tynna: "Finde ich schon gewagt"
Für Deutschland treten Abor & Tynna mit ihrem Song "Baller" an. Wie bewerten Sie das Lied als Musik-Experte?
Die Hookline des Liedes (das, was im Ohr hängen bleiben soll) wurde künstlich in der Musikproduktion mit einem "Stotter-Effekt" im Computer hergestellt. Immer dann, wenn der Refrain mit "Balla-la-la-la" einsetzt. Die Sängerin darf laut Regelwerk des ESC nicht so tun, als würde sie das live erzeugen. Da die Stelle so zentral ist, finde ich es schon gewagt, damit in den Wettbewerb zu gehen. Vielleicht hat man sich gedacht, dass die Stelle gut bei der Punktevergabe aufgegriffen werden könnte. Jemand aus Skandinavien singt dann: "12 points for Balalalala!" Aber ob von irgendwo außer von Österreich, woher das Duo stammt, für Deutschland 12 Punkte möglich sind, kann kritisch hinterfragt werden.

"Baller" klingt auf den ersten Moment sehr monoton, hat aber auch eine hypnotische Wirkung auf viele Hörer. Wie erklären Sie sich das?
Es ist ein 4-Chord-Song, nichts Ungewöhnliches, das gibt es in Millionen Popsongs. Der Refrain besteht aber im Wesentlichen nur aus zwei Tönen: c und f. Eine Quarte. Der Ohrwurm soll damit reingehämmert werden. Ich würde das als die Specht-Methode bezeichnen wollen. Aber es klingt dadurch alles auch sehr gleichförmig, ohne wirkliche Melodie-Progression.
Chancen für Deutschland auf ersten ESC-Platz: "Dafür können nur Kräfte im Hintergrund sorgen"
Wie schätzen Sie die Chance von Abor & Tynna ein? Werden uns die beiden einen neuen Lena-Moment bescheren?
In Deutschland wird der Track kritischer gesehen als im europäischen Ausland. Vielleicht wird positiv gesehen, dass die beiden zum ersten Mal seit 1998 wieder mit einem deutschsprachigen Titel an den Start gehen. Wenn der Song aber wie Lena 2010 auf Platz 1 geht, dann wäre ich sehr überrascht. Dafür könnten vermutlich nur Kräfte im Hintergrund sorgen, die auch die WM-Vergabe der FIFA organisieren.
Eigentlich wollten Abor & Tynna mit dem Song "Babylon" antreten, doch Stefan Raab riet ihnen zu "Baller". War das eine gute oder eher schlechte Idee?
Da hat er, was die Dynamik und den Wiedererkennungswert des Songs anbelangt, schon recht. Kritiker würden vielleicht sagen: ist doch egal, womit wir Letzter werden. Aber so fatalistisch sollte man nicht an die Sache gehen. Vielleicht hat Raab mit seiner Erfahrung ein Ass im Ärmel und das Duo überrascht mit einer starken Performance. Die Eröffnungsshow von Raab vom ESC 2011 in Düsseldorf war beeindruckend. Also, ein bisschen Zweckoptimismus kann nicht schaden.

Zerstört Stefan Raab sein ESC-Vermächtnis?
Den Buchmachern zufolge wird Deutschland beim ESC sehr schlecht abschneiden, Abor & Tynna wird "eurovisionworld.com" zufolge eine einprozentige Gewinnchance attestiert. Wie aussagekräftig sind diese Quoten?
Die Quoten als Vorhersage waren in den letzten Jahren zuverlässiger als die Prognosen beim Brexit oder bei den Trump-Wahlen. Die Zeichen für Abor & Tynna scheinen momentan allerorts so schlecht zu stehen, dass sie fast nur gewinnen können. Wie gesagt, vielleicht werden wir alle überrascht.
Sollte der deutsche ESC-Beitrag tatsächlich floppen, rückt damit auch Stefan Raab in den Fokus. Wäre seine ESC-Karriere damit gelaufen und das Vermächtnis um Lenas Sieg von 2010 ramponiert?
Ramponiert wäre der Erfolg von 2010 nicht. Auch Ralph Siegel hat es immer wieder mit Beiträgen versucht. 1986 ist, glaube ich, der Titel "Telefon" der kurzlebigen Formation That’s Life auf dem letzten Platz im Vorentschied gelandet. Er hat unzählige Titel für den ESC komponiert. Der große Erfolg mit Nicoles "Ein bisschen Frieden" von 1982 kann ihm keiner nehmen und das ist auch gut so.
Geheim-Formel zum ESC-Gewinn: So könnte es mit dem Sieg klappen
Was macht für Sie als Musik-Experte einen Sieger-Song für den ESC aus? Gibt es eine geheime Formel zum Erfolg?
In circa drei Minuten muss man Menschen so begeistern, dass es nachwirkt. Länderübergreifend. Man braucht einen Ohrwurm, eine starke Performance und Authentizität. Es muss auch nicht immer überladen sein. 2018 ist Michael Schulte für Deutschland ganz allein mit einer reduzierten, aber emotional überzeugenden Performance vierter geworden. Wir sollten wieder mehr auf echte Emotionen und musikalische Fähigkeiten setzen. Und weniger auf kalkulierte Kopfentscheidungen, was denn vielleicht funktionieren könnte.
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