Witzigmann: „Die Menschen haben den Genuss verloren!“

Der Jahrhundert-Koch schimpft in der AZ über den Trend „to go“ – also dass nur noch im Gehen gegessen wird: „Keine Gemütlichkeit mehr!“
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Nimmt sich fürs Essen gerne Zeit: Jahrhundert-Genießer Eckart Witzigmann hat noch nie im Gehen etwas gegessen.
Gregor Feindt Nimmt sich fürs Essen gerne Zeit: Jahrhundert-Genießer Eckart Witzigmann hat noch nie im Gehen etwas gegessen.

MÜNCHEN - Der Jahrhundert-Koch schimpft in der AZ über den Trend „to go“ – also dass nur noch im Gehen gegessen wird: „Keine Gemütlichkeit mehr!“

Er ist der Koch des Jahrhunderts und hat sich alle Sterne vom Küchen-Himmel geholt – doch eines lässt ihn wirklich überkochen: Eckart Witzigmann (69) sitzt mit seiner Lebensgefährtin Nicky Schnelldorfer und mit mir in Thierry Leoncellis „L’Atelier“, trinkt Weißwein, isst Quiche-Lorraine-Häppchen und kann nur den Kopf schütteln, wenn er die Passanten mustert. Jeder, der an uns vorbeischlendert oder rennt, hat nicht nur die Ohrstöpsel seines iPods im Ohr, sondern auch etwas in der Hand. Jeder.

Ob ein XXL-Starbucks-Becker oder ein Helles, eine Leberkas-Semmel oder Sushi aus der Box – für Witzigmann ist das völlig unbegreiflich: „Ich habe noch nie in meinem Leben im Gehen gegessen. Und ich finde es echt schade und auch schrecklich, dass die Menschen damit den Genuss verloren haben.“

Wenn alles „to go“ ist, wird das Essen zur Nebensache, meint der Koch-Künstler. „Die Leute nehmen sich keine Zeit mehr zum Essen. Es fing mit den amerikanischen Kaffee-Ketten an, die so irre schnell beliebt und cool wurden“, so der gebürtige Österreicher und Wahl-Leheler, „und findet heute seinen traurigen Höhepunkt. Der To-Go-Trend hat jedes Essen zum sekundären Snack degradiert. Es gibt dadurch keine Gemütlichkeit mehr. Kein Zelebrieren eines schönen Mahls. Niemand nimmt mehr Messer und Gabel in die Hand.“

Eckart Witzigmann kaut genussvoll ein Quinche-Stück und bedauert schließlich, dass gerade junge Menschen eine komplett andere Essenskultur haben als er damals.

„Bei uns wurde das gemeinsame Essen – ob daheim oder in einem Lokal – total gepflegt. Heute gibt es diese Tradition gar nicht mehr. Jeder isst für sich – und ist damit auch für sich. Jeder lebt sein eigenes Leben zu seinen eigenen Uhrzeiten.“

Alles passiere zwischendurch oder gar zeitversetzt. „Jugendliche brunchen um 16 Uhr, essen nachts zu Abend und haben auch sonst keine geregelten Essenszeiten mehr.“ Dabei habe es in Witzigmanns Augen überhaupt nichts mit Luxus zu tun, schön zu essen. „Ob es um einen Teller Spaghetti geht oder einen knackigen Salat – wer deckt für sich daheim noch? Legt sich eine Serviette parat? Zündet eine Kerze an? Macht es sich gemütlich?“

Die Antwort liefert er prompt: „Von den jungen Menschen macht das niemand mehr.“

Viel Verständnis hat er dafür nicht übrig: „Man fühlt sich doch viel wohler, wenn man an einem hübsch gedeckten Tisch sitzt.“

Zurück zur Gemütlichkeit – kann man die Zeit überhaupt noch zurückdrehen?

Witzigmann trinkt einen Schluck Weißwein und überlegt. „Besonders die Eltern sind gefordert! Essen muss wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden!“

Natürlich sei es problematisch, wenn Kinder lange Schulzeiten haben und das gemeinsame Mittagessen somit ausfallen muss. Dennoch meint der Jahrhundert-Koch: „Eine gemeinsame Mahlzeit am Tag ist wichtig. Essen ist so viel mehr als nur etwas zu essen. Es geht um Zeit, Gespräche, Sinnlichkeit, Lebensfreude. Wer essen will, muss sich eine Pause gönnen!“

Witzigmann werden nun Salami-Scheiben und Cornichos serviert. Nicht „to go“, nicht zum Mitnehmen. Sondern zum Essen – hier und jetzt.

Kimberly Hoppe

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