Rea Garvey über seine große Familie: "Wir haben das Chaos geliebt"

Der Musiker Rea Garvey legt ein sehr persönliches Buch vor: über eine Kindheit im katholischen Irland, acht Geschwister, einen Vater bei der Polizei, das Aufwachsen in bescheidenen Verhältnissen. Es geht um die ersten Schritte in der Musik, den Aufbruch in die Bundesrepublik und schließlich auch um die Suche nach sich selbst. Die AZ hat mit dem Musiker gesprochen.
AZ: Herr Garvey, Ihr neues Buch trägt den Titel "Before I Met Supergirl". Der Song "Supergirl" von 2000 machte Sie berühmt – darin geht es um eine Frau, die nach außen stark wirkt, aber innerlich verletzlich ist. Wer oder was ist diese Figur für Sie?
REA GARVEY: Meine heutige Frau ist nach einem Streit mit einem Freund allein von einer Party nach Hause gelaufen. Mitten durch Hamburg, morgens um drei. Wir waren gerade frisch zusammen und ich hatte extreme Sorge. Gleichzeitig wurde mir klar, wie stark Frauen tatsächlich sind. Am Ende machen sie meiner Erfahrung nach ohnehin immer das, was sie wollen.
Herkunft von Rea Garvey: Er wächst mit sieben Geschwistern in Irland auf
Ihr Werk führt uns ins Irland der 1970er Jahre. Sie wachsen in der Stadt Tralee auf, acht Kinder insgesamt, der Vater bei der Polizei, die Mutter Lehrerin, wenig Geld. Wie hat diese Mischung aus Ordnung und Chaos Sie geprägt?
Wir haben das Chaos geliebt, einfach, weil wir so viele waren. Meine Eltern wollten allerdings immer eine gewisse Ordnung haben. Das war ihre fast militante Art, uns alle morgens aus dem Haus zu schaffen. Wir mussten aber immer schmunzeln, weil wir wussten, dass wir mit einer einzigen Aktion das Kartenhaus zum Einsturz bringen können. Daraus hat sich eine Stärke entwickelt: im Chaos Ordnung zu finden – und nicht aufzugeben, wenn etwas nicht klappt.

Im Buch beschreiben Sie Szenen aus dieser Kindheit – eine junge Familie, viele Kinder, viel Verantwortung. Was hat Sie rückblickend am meisten beeindruckt an Ihren Eltern?
Mein Vater hatte mit 25 Jahren vier Kinder. Wie verrückt ist das? Trotzdem hat er nie den Faden verloren und die Vaterfigur großartig ausgefüllt. Das ist typisch für diese Generation – einfach, weil es von ihnen erwartet wurde. Dadurch sind wir auf dem geraden Weg geblieben.
Rea Garvey: "Heute bin ich nicht mehr religiös, nur noch gläubig"
Das katholische Irland der 70er und 80er bestimmte vieles. Sie schreiben über Glaube und Zweifel. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Religion im Laufe der Jahre verändert?
Religion war der Mittelpunkt für uns alle. Heute bin ich aber nicht mehr religiös, sondern nur noch gläubig. Im Gegensatz zu meiner Familie gehöre ich auch keiner Kirche an. Ich habe einen anderen Weg gewählt, mit einer Beziehung zu Gott. Aus heutiger Sicht ist es witzig, dass ich ausgerechnet in einer Familie, in der das Katholische vorgelebt wird, das Gefühl bekam, woanders hinzumüssen.
Was ist für Sie der Unterschied zwischen Glaube und Religion?
Bei der Religion kommen neben der Kirche viele Regeln hinzu. Sex vor der Ehe darf man nicht haben, verschiedene Sünden, Vorschriften, wie man sich gesellschaftlich zu verhalten hat. Damit fühlte ich mich nicht wohl. Außerdem haben sich in der Zeit, in der ich in Irland aufwuchs, viele Sadisten in der Kirche versteckt, die nur Böses im Sinn hatten. Als Kind war man also einer Gefahr ausgesetzt. Als junger Mensch musste man sich wehren – und ich habe mich gewehrt.
Als Teenager in Irland: Rea Garvey über seine rebellische Phase
Als Teenager schnitten Sie sich unter anderem einen Irokesen, hörten Punk – wollten also der Revoluzzer sein.
Sich nicht an die Regeln zu halten, war ein Gefühl von Freiheit. Irgendwann hatte ich Keanu Reeves im Film "Prinz von Pennsylvania" gesehen – und mir meine Haare genauso wie er zur Hälfte abgeschnitten. Als ich damit zum ersten Mal nach Hause kam, meinte meine jüngste Schwester, der neue Haarschnitt sei schön. Dann kam meine Oma, eine strenge Frau. Sie fand das gar nicht witzig – mein Vater musste jedoch lachen. Und wenn ich ehrlich bin: Er sah als junger Kerl in den Sechzigern auch nicht anders aus, mit seinen Boots und den Ketten.
Später im Buch beschreiben Sie nächtliche Techno-Erlebnisse in Belfast Anfang der 90er. Was haben Sie dort gesucht – und was gefunden?
Techno-Musik war für mich und viele Jugendliche ein neues Freiheitsgefühl. Dieser Beat, diese Klänge – plötzlich konnte jeder tanzen. Das war verrückt! An dem Tag in Belfast, als ich das erste Mal den Sound spürte, hat sich mein Leben verändert. Wir haben nächtelang getanzt, mit Leuten, die wir nicht kannten und später nie wieder sahen. In diesem Moment waren wir eins.
Nach Deutschland – mit zwei Gitarren, einem Mischpult und einem Rucksack
Dann kamen Sie 1998 nach Deutschland. Berlin war mit Blick auf Techno eine ganz andere Hausnummer.
Ich war mit der Universität in Dublin fertig, ich war in einer Band, wir hatten ein paar Touren hinter uns. Die Gruppe zu verlassen, diesen Schritt zu gehen, mit zwei Gitarren, einem kleinen Mischpult und einem Rucksack – das war ein sehr aufregendes und zugleich einsames Gefühl. In Deutschland habe ich als Shirt-Verkäufer angefangen, Geld zu verdienen, bei Freunden geschlafen, um Fuß zu fassen. Erst dann habe ich die erste Kneipe gebucht.
Hatten Sie damals einen Moment, in dem Sie dachten, Ihr Traum löst sich in Luft auf?
Jeden zweiten Tag. Ich war jung, Feuer zwar in mir, aber kein großes Selbstbewusstsein. Ich hatte "Reamonn" gegründet und die Musiker gefunden. Der Gitarrist fand die Band großartig – und ich glaubte es ihm einfach. Ich bemerkte in diesem Moment, dass ich gar nicht alle Antworten selbst kennen muss, sondern ein Teil davon sein kann.
Garvey: "Das Buch habe ich immer nachts geschrieben"
Wie war es in den letzten Wochen, als Sie sich beim Schreiben so tief mit Ihrer Vergangenheit auseinandersetzten?
Das Buch habe ich immer nachts geschrieben. In der Dunkelheit konnte ich besser in die damalige Zeit eintauchen. Manchmal musste ich so laut lachen, weil mir manche Menschen wieder einfielen – wie sie sich verhielten, wie ihre Gesichtszüge aussahen. In anderen Momenten hatte ich Tränen in den Augen. Ich habe mich nie als Schriftsteller gesehen, es ist jedoch nicht weit entfernt von Musik und Kunst. Irgendwie habe ich es geliebt.
Was sollen Ihre Leser aus dem Buch mitnehmen?
Ich hoffe, dass jeder die gleiche Reise macht: unter Menschen zu sein und sich nicht einsam zu fühlen. Manchmal lachend, weinend oder nachdenkend. Eine geteilte Geschichte wiegt oft nicht mehr ganz so schwer –und wenn jemand merkt, dass ich da auch schon durchgegangen bin, fühlt man sich nicht mehr allein. Genau darum geht es.