Purer Irrsinn in drei Akkorden
AZ-Serie "Mein erstes Mal", Teil 3: Wer Woodstock nicht erlebt hat, muss dafür zumindest ein Mal auf ein richtig hartes Rockkonzert gehen – zu Motörhead.
Es gibt sie in allen Kulturkreisen: Initiationsriten. Dieser Schritt, der die Mannwerdung bedeutet. Den Weg, den man als unbedarfter Junge beschreitet und als (da, in dieser Welt vollkommen unerfahren, wahrscheinlicher noch sehr viel unbedarfterer) Mann verlässt.
Nun, in unserer übertechnisierten, überbürokratisierten, von Krankenversicherungen und Sozialhilfe abgesicherten Welt, da muss man nicht mehr einen Löwen erlegen oder durch Reifen aus Haifischzähnen springen.
Der Initiationsritus ist klar umrissen
Nein, in unserer Welt, da gibt es nur noch wenige Abenteuer, nur wenige Prüfungen, die für diese imaginäre Linie stehen. Prüfungen, die man als Jugendlicher nur zu wispern wagt, schließlich geht es um die verbotene Zone. Für jeden, der sich nur im Ansatz der Welt der Rocker und der Roller, gar der metallisch rockenden Kaste zugehörig fühlte, war dieser Initiationsritus klar umrissen.
Ein Konzert.
Aber nicht irgendeines. Es musste schon ein Gig der besonderen Art sein: Ein Konzert von Motörhead. Der damals – vom Guinness-Buch der Rekorde ausgewiesen – lautesten Band der Welt, und bis heute sicher noch der dreckigsten (in all seinen Bedeutungen des Wortes Dreck passend) Band der Welt.
Dieses Ereignis musste man natürlich auch noch ohne jeden Schutz (Ohrenstöpsel) und dazu in vorderster Front dieser lautstarken, furchteinflößenden Bestie trotzend, überstehen.
Die Jünger der harten Klänge versammeln sich
Mit schwitzigen Händen durchforstete man wochenlang die Zeitungen (so was wie Internet gab’s ja noch nicht), wann die Kunde von der Ankunft des Schreckens aus England die Runde machte. Und eines Tages war es soweit. Da stand es: Motörhead kommen nach München. Auf ihrer Orgasmatron-Tour!
Und als der Tag gekommen war, da versammelten sich die Jünger der harten Klänge.
Da waren sie – die lederjacken- und kuttenbewaffneten Haudegen. Und da waren wir – die Novizen. Mit leicht verächtlichen, teils mitleidigen Blicken bedacht. Den nicht vorhandenen Mannesmut angetrunken, kämpfte man sich mit Ellenbogenfreundlichkeit ganz nach vorne. Dann gingen sie aus, die Lichter.
Und Ober-Motörhead Lemmy Kilmister betrat die Bühne. Mit seiner Brachial-Stimme, die die Flatulenzen der Hölle verkörpert, röchelt er sein kultiges „Good evening, we are Motörhead. And we play rock ’n’ roll!“ ins Mikro. Dann geht es los. Der erste Bassschlag trifft direkt in die Magengrube, die Hosenbeine vibrieren bei jedem Gitarrenschlag. Das Schlagzeug bearbeitet den Verdauungsapparat unbarmherzig und zerkleinert jeden Inhalt. Die erste Reihe, sie ist purer Überlebenskampf. Zuckende, bangende, sich windende Leiber, die schreien, als habe der Leibhaftige sie an ihrem Allerheiligsten gepackt. Das zuvor reichlich zugeführte Bier wird als Schweiß abgesondert.
Eine Frau reißt einem das Shirt runter und leckt den Schweiß ab
Eine Frau, keine Novizin mehr, schon eher eine vom Groupie-Trainingslehrgang zurückgekehrte schwer angetrunkene Brünfterlin, reißt einem das Motörhead-Shirt runter und leckt den Schweiß vom Leib. 90 Minuten dauert dieser Irrsinn in drei Akkorden. Dann machen sich Lemmy und die Motörheads davon. Der Gang nach draußen, er wird zum gefühlten Rock’n’Roll-Ritterschlag. Die Haudegen, sie schauen nicht mehr verächtlich, sondern anerkennend. Das fehlende Shirt ist schließlich Beweis aller Erste-Reihen-Exzesse.
Und als Trophäen dieses Initiationsritus hat man blaue Flecken, Kratzer, eine heiser geschriene Stimme und ein infernalisches Dauerklingeln in den Ohren. Man hat sie gesehen, die Pforte zum Rock’n’Roll-Himmel, man hat angeklopft, wurde eingelassen und wird diesen Ort des inneren Friedens und der äußeren Lautstärke nie wieder verlassen. Elf weitere Motörhead-Konzerte habe ich seit 1986 gesehen, aber dieses war das unvergessliche erste Mal.
Matthias Kerber
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