Mona Michaelsen im Interview: „Ich würde ihm nie verzeihen!“

Mona Michaelsen wurde von ihrem Stiefvater als Kind sexuell missbraucht. Jetzt hat dieheute 45-Jährige ihre Erinnerungen an die Geschehnisse als Buch veröffentlicht.
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Mona Michaelsen: Die Pädagogin wuchs in Niedersachsen auf und lebt heute mit ihrem Mann in Schleswig-Holstein.
AZ Mona Michaelsen: Die Pädagogin wuchs in Niedersachsen auf und lebt heute mit ihrem Mann in Schleswig-Holstein.

Mona Michaelsen wurde von ihrem Stiefvater als Kind sexuell missbraucht. Jetzt hat dieheute 45-Jährige ihre Erinnerungen an die Geschehnisse als Buch veröffentlicht.

Die Kindheit von Mona Michaelsen endete an dem Tag, als ihr Stiefvater sie erstmals missbrauchte. Nach vielen Jahren des Schweigens schrieb sie einen langen Brief an ihre Mutter, die ihr nicht geholfen hat. Diesen hat die 45-Jährige jedoch nie abgeschickt – jetzt erscheint er als Buch unter dem Titel: „Flüsterkind“ (Schwarzkopf und Schwarzkopf, 9,90 Euro).

AZ: Frau Michaelsen, wie ist das für Sie, täglich von neuen Missbrauchsfällen in der Zeitung zu lesen?

MONA MICHAELSEN: Ich Freude mich, wenn Betroffene endlich den Schritt wagen und darüber sprechen, denn das erfordert viel Mut. Und ich hoffe, dass es noch sehr viele mehr ihr Schweigen brechen. Ganz unabhängig davon, ob diese Dinge in katholischen Internaten oder im familiären Umfeld geschehen sind.

Es besteht die Chance, dass dieser ganze Medienrummel in Zukunft potentielle Täter abschreckt…?

So ist es! Und da all diese Fälle so präsent in den Medien sind, wird man auch gesetzlich etwas tun müssen – das ist der einzige Vorteil.

Ihre Mutter hat damals nicht eingegriffen - obwohl sie wusste dass Ihr Stiefvater Sie sexuell missbraucht hat. Wie können Sie sich das erklären?

Ich kann es mir nicht erklären, auch wenn ich es eine Zeit lang versucht habe. Denn egal wie sehr ich meinen Mann liebe - wenn ich Kenntnis darüber erhalte, dass er mein Kind missbraucht, ist diese Liebe sofort erloschen und ich schreite selbstverständlich ein und beschütze mein Kind.

Ist derjenige, der Bescheid weiß und nicht eingreift, nicht Mittäter?

Absolut. Derjenige, der Wissen über Missbrauch hat und nichts dagegen unternimmt, ihn sogar stillschweigend duldet, ist selbstverständlich Mittäter!

Ihr Buch erscheint jetzt. Was ist das für ein Gefühl: zu wissen, dass jeder Mensch Ihre Geschichte lesen kann?

Das ist ein durchweg gutes Gefühl! Ich bin stolz, dass ich es durchgezogen habe. Dieses Buch war ja ursprünglich ein Brief an meine Mutter – jetzt ist es ein Brief an alle Menschen.

Wissen Sie, ob Ihre Mutter das Buch gelesen hat?

Ich weiß es nicht. Ich denke, wenn sie Kenntnis darüber erhält, wird sie es lesen. Ich erwarte aber keine Reaktion, schon gar keine positive. Da kann ich nur abwarten, da ich seit 10 Jahren keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter habe.

Ihre Mutter hat vor 10 Jahren gestanden, dass sie von dem Missbrauch wusste. Einen Tag später hat Ihr Bruder Sie angerufen, um den Kontakt abzubrechen. Warum?

Er rief im Auftrag meiner Mutter an, um mir mitzuteilen, dass meine Mutter keinen weiteren Kontakt zu mir wünscht, da ich Lügengeschichten über ihre Familie erzählen würde. Am Tag zuvor hatte ich noch mit ihr telefoniert. Da hat sie mir gestanden, dass sie es wusste, aber aus Angst vor meinem Stiefvater nicht eingreifen konnte. Wir haben beide geweint und ich dachte: Jetzt wird alles gut, wir können endlich darüber reden. Kaum hatte ich dies gedacht, rief am nächsten Tag mein Bruder an.

Würden Sie sich wünschen, dass sie sich bei Ihnen meldet, oder sich sogar entschuldigt?

Das habe ich mir viele Jahre lang gewünscht. Aber mittlerweile habe ich mich davon unabhängig gemacht. Ich habe früher sehr darunter gelitten, dass sie mich als Lügnerin hingestellt hat, obwohl sie zugegeben hat, dass sie alles wusste. Was allerdings passieren würde, wenn sie tatsächlich vor meiner Tür stehen und um Entschuldigung bitten würde – ich kann es nicht sagen!

Was wäre, wenn Ihr Stiefvater sich bei Ihnen entschuldigen würde?

Das ist ein absurder Gedanke, weil er es nie tun würde! Selbst wenn, ich würde ihm nie verzeihen, auf keinen Fall. Außerdem würde es alles wieder aufwühlen. Je weniger ich von ihm höre, desto besser!

Ihre Mutter ist bis heute mit Ihrem Stiefvater zusammen. Glauben Sie, dass sie ihn je verlassen wird?

Nein, das wird sie nicht, niemals! Die beiden feiern bald goldene Hochzeit.

Haben Ihre Geschwister Kontakt zu Ihrer Mutter und dem Stiefvater?

Ja, alle haben Kontakt miteinander.

Das erstaunt, denn Ihr Stiefvater soll sich auch an Ihrer Schwester Ulla vergangen haben. Wie können Sie den Kontakt erklären?

Ich kann es schwer erklären, denn für einen Außenstehenden ist das sehr schwer zu verstehen. Vielleicht ist es vergleichbar mit einem Hund, der von seinem Besitzer geschlagen wird. Der liebt sein Herrchen trotzdem, und kommt immer wieder zurück.

Sie verwenden ein Pseudonym. Wissen Ihre Geschwister überhaupt, dass Ihre Geschichte jetzt als Buch erscheint?

Ich habe nur mit zwei meiner Schwestern sporadischen Kontakt. Sie finden meine Entscheidung gut, an die Öffentlichkeit zu gehen. Von den anderen habe ich nichts gehört.

Wird Ihr jetziger Mann das Buch lesen?

Nein. Er kennt meine Geschichte in groben Zügen, und ich denke, dass das ausreicht. Auch meine beiden Söhne möchte ich nicht mit Einzelheiten belasten. Die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben werden das Buch also nicht lesen!

Ihr Buch heißt „Flüsterkind“, da Sie in Ihrer Kindheit immer leise sein mussten, um Ihren Stiefvater nicht zu reizen. Haben Sie heute nie das Bedürfnis, bei ihm vorbeizufahren und ihm alles, was Sie belastet, ins Gesicht zu schreien?

Nein, mittlerweile nicht mehr. Einmal habe ich bei ihm angerufen und eine Entschuldigung erwartet. Doch er schrie mich an, verfluchte und beschimpfte mich und hat dann den Hörer aufgelegt. Ihn mal richtig anzuschreien, und ihm alles zu sagen, was ich schon immer sagen wollte – das ist gar keine schlechte Idee! Ob es tatsächlich dazu kommen wird, weiß ich nicht. Aber der Gedanke hat wirklich etwas.

Sie haben sich in Ihrer Kindheit nachts immer bei den Großeltern versteckt. Haben Sie sich nicht überlegt, sich ihnen anzuvertrauen?

Mein Großvater war der zärtlichste Mensch in der Familie. Doch auch er wusste von dem Missbrauch, wenn auch nicht detailliert. Wenn ich ihm erzählte „Papa hat das Schlimme schon wieder mit mir gemacht“, dann sagte er, „Dieser Scheißkerl“, und hat mir über den Kopf gestreichelt. Das hat mir schon gut getan. Doch selbst er konnte mir nicht helfen, da auch er Angst vor meinem Stiefvater hatte.

Haben Sie sich nie überlegt, sich Eltern von Mitschülern anzuvertrauen?

Nein. Die Gehirnwäsche meines Stiefvaters hat so gut funktioniert, dass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin. Er sagte immer: „Wenn du jemanden etwas erzählst, mach ich dich kalt!“ Nachdem ich meiner Mutter davon erzählte, und sie mich daraufhin verprügelte, kam ich nicht auf den Gedanken, dass ein anderer mir glauben könnte.

Haben Sie sich nie überlegt, einfach davonzulaufen?

Ich bin öfter davongelaufen, aber geändert hat es nichts. Denn irgendwann war ich wieder zuhause und alles ging von vorne los.

Was hat Sie während Ihrer Kindheit aufrecht gehalten?

Die Hoffnung darauf, dass ich eines Tages 18 sein werde und von zuhause weggehen kann. Ich hatte immer eine geistige Sanduhr im Kopf, durch die Tage statt Sandkörner geflossen sind.

Ihre Geschichte und das Umfeld aus Ihrer Kindheit sind aber sehr detailliert beschrieben. Wissen Bekannte Ihres Stiefvaters jetzt, was er für ein Mensch ist?

Gute Bekannte der Familie könnten die Personen aus den Schilderungen wirklich erkennen. Manche werden mich auch im Fernsehen oder in der Zeitung an meinem Gesicht erkennen. Dann wissen sie Bescheid. Wenn das der Fall ist, kann es mir nur Recht sein!

Sie haben Ihren Stiefvater nie angezeigt. Viele können nicht verstehen, warum.

Als ich mich dazu entschlossen habe, nicht mehr zu schweigen, war es schon zu spät um ihn für seine Taten dran zu kriegen. Da war es schon verjährt.

Man könnte ihn heute nicht mehr für seine Taten bestrafen?

Nein, er ist strafrechtlich aus dem Schneider.

Das ist unglaublich!

Auf jeden Fall! Daher ist es auch dringend notwendig, gesetzlich etwas zu ändern!

Durch die derzeitige Medienpräsenz stehen die Chancen gut.

Das ist meine Hoffnung!

Was wäre die gerechte Strafe für einen Täter, auch nach all den Jahren?

Das ist eine sehr gute Frage. Wahrscheinlich etwas, wodurch er den Rest seines Lebens leiden wird. Aber ihn einfach nur ins Gefängnis stecken? Eigentlich gibt es gar keine gerechte Strafe dafür, dass man die Seele von jemandem kaputt macht. Missbrauch verjährt zu schnell! Denn viele der Opfer können erst nach Jahren darüber sprechen, manche nehmen ihr Geheimnis sogar mit ins Grab. Manche Väter kommen wirklich ungeschoren davon – das darf nicht sein! Ein Opfer sollte auch nach vielen Jahren noch die Möglichkeit haben, den Täter anzuzeigen.

Sie sind mit 18 ausgezogen, haben mit 20 geheiratet und kurz darauf Kinder bekommen. Wie schwer fiel es Ihnen, einem Mann wieder zu vertrauen?

Ich habe heute noch Schwierigkeiten, jemandem aus tiefster Seele zu vertrauen. Aber ich konnte schon damals differenzieren. Denn ich liebte meinen Mann. Mit ihm wollte ich zusammen sein, auch körperlich. Das hatte nichts mit dem Monster meiner Kindheit zu tun.

Wie leicht fallen Ihnen Zärtlichkeiten heute, zum Beispiel gegenüber Ihren Söhnen?

Es fällt mir sehr leicht sie in den Arm zu nehmen. Ich konnte ihnen immer leicht sagen, dass ich sie liebe, und zärtlich zu ihnen sein. Ich brauchte ihnen ja nur das zu geben, was ich nie bekommen hatte - obwohl ich es so dringend gebraucht hätte. Es gab keinen Augenblick, indem ich meine Söhne zurückgewiesen habe. Heute sind sie erwachsen, und wir haben immer noch ein sehr gutes Verhältnis und herzlichen Kontakt.

Gibt es Tage, an denen Sie gar nicht an Ihre Kindheit denken?

Ja! Es gibt sogar viele Tage, an denen ich gar nicht daran denke. Ich bin jetzt 45, und musste wirklich so alt werden, um das alles einigermaßen verarbeiten zu können. Es gibt natürlich auch Tage, an denen ich durch Musik oder einen Film daran erinnert werde. Trotzdem ist mein Leben heute gut so, wie es ist!

Glauben Sie, jemals mit Ihrer Vergangenheit abschließen zu können?

Ich werde nie komplett damit abschließen können. Vielleicht werde ich monatelang nicht daran denken, aber dann wird mich wieder irgendetwas an die Vergangenheit erinnern. Aber ich habe jetzt einen Weg gefunden, damit leben zu können. Und ich hoffe, dass das ganz vielen anderen Betroffenen auch gelingen wird.

Sie wirken wirklich, als hätten Sie ein neues Leben begonnen…

So ist es! Ich bin nicht ständig depressiv. Mir ist es trotz allem gelungen, humorvoll und freundlich zu sein. Da habe ich ganz alleine mir zu verdanken. Und darauf bin ich wirklich stolz!

Interview: Jennifer Köllen

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